1992 – in den Wirren der Nachwendejahre ist das gesellschaftliche Klima in Sachsen geprägt von Hoffnungslosigkeit und Gewalt. Um dagegen anzukämpfen startet die Sächsische Zeitung eine Kampagne, in der sie original sächsische Erfindungen vorstellt, wie zum Beispiel den Kaffeefilter oder die Zahnpastatube. All das stammt – das wissen nur wenige – aus dem ostdeutschen Bundesland. Ebenso wie Samuel Meffire. Eine Ausgabe der Kampagne zeigt das Bild des Schwarzen jungen Polizisten aus Dresden, mit Rollkragenpulli und ernstem Gesichtsausdruck. Darüber steht in großen Lettern „Ein Sachse“. Auch Samuel ist original ostdeutsch – eine Tatsache, die ihm viele wütende Neonazis zu dieser Zeit vehement absprechen wollen. Das Land ist von einer Welle rassistischer Gewalt betroffen. Auch deswegen wird das Bild innerhalb weniger Tage und Wochen deutschlandweit bekannt.

Ein Jahr später, 1993, ist der Jubel um Samuel Meffire verklungen. Stattdessen prangt sein Bild auf zahlreichen Fahndungsfotos. Aus dem Schwarzen Vorzeigepolizisten ist ein gesuchter Krimineller geworden. Doch das ist nicht das Ende seiner Geschichte. Weitere dreißig Jahre danach, am 30. März 2023, erscheint die Autobiografie Samuel Meffires mit dem Titel „Ich, ein Sachse„. Sie erzählt auf spannende Art und Weise ein Leben mit vielen Kanten und Brüchen. Ehrlich und schonungslos eröffnet sie einen Blick auf die Lebenswirklichkeit eines Schwarzen Sachsen im Trubel der Wendejahre bis heute.

Anti-Schwarzer Rassismus vor der Wende

1970 kommt Samuel Njankouo Meffire in Zwenkau bei Leipzig zur Welt. Samuel – das ist auch der Vorname seines Vaters, der an den Sohn weitergegeben wird. So ist es Tradition in der kamerunischen Familie. Von ihr ist Samuel senior Tausende Kilometer weit entfernt, seit er aus Kamerun in die DDR kam, um dort zu studieren. Nach der Geburt seines zweiten Kindes möchte er mit seiner deutschen Frau und beiden Kindern nach Kamerun zurückkehren. Soweit wird es jedoch nie kommen. Am Tag der Geburt stirbt Samuels Vater, vermutlich vergiftet von Kommiliton:innen.

Der Fall wird jedoch nie aufgeklärt. Jegliche Indizien lässt die Staatsmacht verschwinden. Gewalt gegen Schwarze Vertragsarbeiter:innen und Studierende aus sozialistischen oder blockfreien Staaten darf in der DDR nicht ans Licht kommen. Offiziell dominiert hier die internationalistische Solidarität. Vor allem Menschen aus Vietnam und Mosambik werden in der DDR ausgebildet und als (Fabrik-)Arbeiter:innen beschäftigt. Darüber hinaus können „gute Sozialist:innen“ aus unterschiedlichen Ländern an ostdeutschen Universitäten studieren. Der weitere gesellschaftliche Aufstieg, vor allem aber die Integration und das Gründen von Familien mit deutschen Partner:innen sind nicht vorgesehen. Auch Samuels deutsche Großeltern kritisieren die Entscheidung ihrer Tochter, einen Schwarzen zu heiraten. Über Jahre bricht der Kontakt zwischen ihnen ab.

Eine Kindheit in der DDR

So steht Samuels Mutter nach der Ermordung ihres Mannes zunächst allein. In den folgenden Jahren leidet sie stark unter Alkoholismus, wird aggressiv und schlägt ihre Kinder. Da kommt wieder der Großvater ins Spiel. Trotz aller Vorbehalte nehmen Samuels Großeltern den Schwarzen Enkelsohn zeitweilig bei sich auf. Im Großvater findet Samuel zunächst die ersehnte, gutmütige Vaterfigur. Das „Paradies“ hält jedoch nicht lange. Samuels Familie bleibt zerrüttet.

Bis weit ins Erwachsenenalter hinein leidet Samuel Meffire unter dem Verlust des Elternteils. Von seiner afrikanischen Familiengeschichte bleiben ihm nicht viel mehr als seine etwas dunklere Hautfarbe und sein Name. Der jedoch steht nicht einmal voll ausgeschrieben auf den offiziellen Dokumenten. „Sam“ heißt er auf seiner Geburtsurkunde. Der Name Samuel ist den ostdeutschen Behörden „zu jüdisch“, „zu zionistisch“, denn in dieser Zeit lehnt die DDR den Staat Israel per se ab.

Samuel Meffire im (Nach-)Wendechaos

Im Rückblick beschreibt Samuel seine Jugendjahre und die darauffolgenden Zwanziger wie eine endlose Abfolge von Scheitern, ein vergeblicher Versuch irgendwo anzukommen. Anders als in vielen, bis heute dominanten deutschen Narrativen, ist für Samuel das Ende der DDR ein Schock. Nicht erst als zahlreiche Betriebe schließen, die Arbeitslosigkeit und Verzweiflung in den sogenannten neuen Bundesländern steigen, stellt die „Wiedervereinigung“ für ihn einen Verlust dar. Das Land seiner Kindheit – sein Land – ist verschwunden. Nach wenigen Monaten Ausbildung bei der DDR-Polizei wird diese sogleich wieder beendet. Nach der Entlassung vieler belasteter Polizisten ist das Personal knapp. Gleichzeitig tauchen immer mehr gewaltbereite Menschen aus der Neo-Nazi-Szene auf und machen die Straßen unsicher.

Wer andere politische Ansichten hat oder anders aussieht, dessen Alltag ist von der Flucht vor wütenden Mobs geprägt. Diese Erfahrung teilt Samuel mit vielen ostdeutschen Zeitzeug:innen. Im Gegensatz zu politisch Andersdenkenden jedoch können er sowie andere ostdeutsche Bürger:innen mit Migrationsgeschichte nicht einfach abtauchen. Allein aufgrund ihrer Hautfarbe müssen sie tagtäglich um ihre Leben fürchten. In dieser Zeit möchte Samuel nur noch weg – aber wohin?

Baseballschlägerjahre

Was Samuel Meffire über die frühen 1990er Jahre schreibt ist keine neue Geschichte. In den vergangenen Jahren etablierte sich für die alltägliche Gewalt ab der Wende bis in die frühen 2000er hinein die Bezeichnung „Baseballschlägerjahre„. Zu dieser Zeit erstarkten vor allem in Ostdeutschland neonazistische Gruppen, die offenen Rassismus und Sympathien zum Nationalsozialismus zur Schau trugen.

Bekannt wurden im Zuge der damaligen Gewaltexzesse vor allem die Schauplätze rassistischer Anschläge wie Hoyerswerda, Solingen und Rostock-Lichtenhagen. Letzterer führte besonders drastisch die Akzeptanz und sogar Unterstützung der gewaltbereiten radikal-rechten Szene durch die breite Bevölkerung vor Augen. Darüber hinaus wurde über die Geschichte der Opfer lange geschwiegen. Unter einem Tweet des ostdeutschen Journalisten Christian Bangel teilten im Herbst 2019 zahlreiche Nutzer:innen auf Twitter persönliche Berichte über Zusammenstöße mit nationalsozialistischen Mobs auf der Straße: eine Alltäglichkeit gegen die zu der Zeit keine Zivilschutzmaßnahme zu greifen schien.

Ansätze einer Erklärung

In der Dresdner Neustadt erlebt Samuel Meffire die ständige Bedrohung Anfang der 1990er Jahre hautnah. Hinter einer schweren Eisentür verschanzt, entkommt er nur knapp mehreren Angriffen. Währenddessen leidet er unter den selben aussichtslosen Umständen, die auch die gefährlichen „Vampire“ wie er sie nennt, auf die Straße treibt: In Folge der Wende, Einführung der D-Mark und westlicher Marktwirtschaft müssen viele ostdeutsche Betriebe innerhalb weniger Jahre schließen. Zahlreiche ostdeutsche Bürger:innen verlieren ihren Arbeitsplatz, viele ziehen weg. Zudem hat der Systemumbruch an mehreren Stellen der Gesellschaft ein Machtvakuum geschaffen. Alte, sozialistische Eliten werden ausgetauscht. Der ostdeutsche Staat wurde vom westdeutschen scheinbar einfach verschluckt. Die Gesellschaft ist in der Krise.

Wichtiges Vorbild…

Samuel beschließt daraufhin seine Karriere bei der Polizei erneut aufzunehmen. Mit der Kriminalpolizei Dresden möchte er für Recht und Ordnung sorgen und lieber kämpfen statt sich zu ergeben. Zeitgleich startet die Kampagne in der Sächsischen Zeitung. Ihr Anliegen, das Selbstbewusstsein der sächsischen, demoralisierten Bevölkerung zu stärken, findet er gut. Nicht alles kommt aus dem Westen, auch Sachsen hat in der Vergangenheit stolze Leistungen vollbracht und ist ein lebenswerter Ort.

Dass die Gegenwart aber auch von Schattenseiten geprägt ist – nämlich rassistischen Angriffen überall im Land – ist den Reporter:innen bewusst. Mit dem Bild eines Schwarzen Mitbürgers möchten sie ein Verständnis dafür schaffen, dass auch Menschen wie Samuel Meffire zu Sachsen gehören. Dementsprechend machen sie sich auf die Suche nach einem netten, sympathischen Lächeln. Zunächst wünschen sie sich dazu einen lachenden ehemaligen Vertragsarbeiter etwa, der versöhnlich scheint. Am Ende jedoch entscheidet sich die Sächsische Zeitung für ein anderes Bild: Samuel lacht nicht. Ihm ist nicht zum Lachen zumute. Sein Konterfei ist eine Kampfansage gegen Rassismus.

… oder Feigenblatt?

Wenig später prangt Samuels Foto auf Plakaten in der ganzen Bundesrepublik. Er wird in Talkshows eingeladen und begleitet den sächsischen Staatsminister des Innern, Heinz Eggert, zu zahlreichen Terminen. Samuel möchte ein Zeichen setzen. Das kommt auch der sächsischen Polizei zu Gute. Seit Beginn der Ausschreitungen stehen Polizeikräfte in ganz Ostdeutschland und darüber hinaus immer wieder in der Kritik, nicht oder nicht konsequent genug einzugreifen. Auch Vorwürfe bezüglich rechtsradikaler „Elemente“ innerhalb der Polizei werden laut. Samuel selbst sind keine solche Fälle aus seinem Umfeld bekannt. Jedoch kennt er die personellen und finanziellen Notstände in der Polizei. An ihnen ändert sich auch nach der Kampagne zunächst nichts. Seinen Job als Schwarzer Vorzeigemann der Polizei hat er bald satt.

Selbstjustiz als Scheitern

Mitte der 1990er Jahre entscheidet sich Samuel Meffire dazu, bei der Polizei auszusteigen. Auch sein „Messias“ Heinz Eggert, der weitreichende Reformen im Justizsystem und gegen Extremismus anstrebt, wird bald entlassen. Enttäuscht vom deutschen, scheinbar überforderten Staatsapparat gründet Samuel gemeinsam mit Bekannten ein eigenes Security-Unternehmen. Ihr Plan ist es, eine Art private Bürgerwehr einzurichten, die Sicherheit auf den Straßen garantiert. Dafür brauchen sie Startkapital, Ausrüstung, nicht zuletzt bezahlte Aufträge. Diese kann sich zu dieser Zeit jedoch niemand leisten. Viele stehen dem Unternehmen auch skeptisch gegenüber, weil es einer unkontrollierbaren Selbstjustiz gefährlich nahekommt.

Überzeugt von seiner Vision wendet sich Samuel schließlich an einen stadtbekannten kriminellen Bordellbesitzer, für den er im Gegenzug kriminelle Aktionen durchführt. Leser:innen erfahren an dieser Stelle nicht, was genau vorgefallen ist. Die Beteiligung an einem Mord streitet der Autor vehement ab. Tatsache ist: Gegen ihn wird ein Haftbefehl erlassen. Samuel flüchtet zunächst nach Berlin, anschließend über Paris nach Zaire (heute: Kongo). Schwer erkrankt, obdach- und hilflos inmitten der dortigen politischen Unruhen stellt er sich letzten Endes der deutschen Botschaft. Zurück in Deutschland und in Haft erfährt Samuel außerdem, dass sein ehemaliger krimineller Auftraggeber ihn als wichtigen Zeugen verfolgen lässt. Vor diesem Hintergrund wird Samuel in den folgenden sieben Jahren als Strafgefangener durch mehrere Einrichtungen geschleust und unter unbekannten Pseudonymen inhaftiert.

Das Leben danach – Samuel Meffire heute

Als Samuel Meffire im Jahr 2002 schließlich entlassen wird, ist er Mitte dreißig. Statt großer Erleichterung fühlt er zunächst Ratlosigkeit. Einmal mehr steht er vor dem Nichts: ohne Arbeit, ohne Familie, dafür mit jeder Menge Schulden. Neben Vorbehalten gegenüber seiner Hautfarbe erschwert ihm nunmehr vor allem seine kriminelle Vergangenheit den Zugang zu sicheren Jobs. Mit Hilfe von Freunden, Therapeuten und nicht zuletzt einer zwischenzeitig verschollenen Liebe kommt er dennoch wieder auf die Beine. Die Geschichte schließt mit einem Happy End: Heute lebt Samuel Meffire in Bonn, hat eine Frau, zwei Kinder und arbeitet unter anderem in der Sozialhilfe mit straffälligen Jugendlichen.

Die Vergangenheit scheint ihn dabei nicht loszulassen. Als ein Team aus deutschen Filmemacher:innen sein Leben als Serie verfilmt, kommen alte Erinnerungen auf, ebenso wie Fragen von Seiten seiner eigenen Töchter. Parallel dazu entschließt er sich, seine Lebensgeschichte als Autobiografie zu verfassen. Auf knapp 400 Seiten erläutern Samuel Meffire und sein Co-Autor Lothar Kittstein die schonungslose und ehrliche Innenperspektive des ehemaligen Posterboy der sächsischen Polizei. Über sein persönliches Schicksal hinaus gibt die Erzählung Aufschluss über die vielen Hürden und Gefahren, denen Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland bis heute gegenüber stehen. Darüber hinaus lässt uns seine Geschichte das (vor allem westdeutsche) Narrativ über die glückliche Wiedervereinigung hinterfragen und was sie für nicht-deutsch Gelesene in Ostdeutschland bedeutete.

Titelbild und Lesetipp: "Ich, ein Sachse" von Samuel Meffire und Lothar Kittstein | ullstein buchverlage 2023 | 400 Seiten | ISBN: 9783864931987 | 19,99€. 

Seit dem 26. April 2023 findet sich auf der privaten Streaming-Plattform Disney+ außerdem die Kurzserie "Sam, ein Sachse". Dass es sich bei dieser ersten deutschen Produktion, basierend auf der Lebensgeschichte Samuel Meffires, um ein Novum bei Disney handelt, verdeutlicht die Aktualität des Themas. 

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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