Auf unserem Blog „Migrationsgeschichten“ haben wir uns mehrmals mit Gastarbeiter:innen und Vertragsarbeiter:innen in der DDR und BRD befasst. Aber wie sah es in vorherigen Jahrzehnten aus? Heute vor 100 Jahren, am 27. August 1922, wurde in Berlin der Bund der Polen in Deutschland gegründet. Auch ihre Geschichte begann mit der gezielten Suche nach Arbeit.

Zwischen 1867 und Anfang der 1920er Jahre wanderte etwa 700.000 Menschen aus den Ostprovinzen Preußens in deutsche Gebiete ein. Einige von ihnen ließen sich in Berlin nieder. Der Großteil aber siedelte sich im westfälischen Ruhrgebiet an. Bis heute leben dort viele Nachkommen der sog. Ruhrpolen. Dabei ist ihre Geschichte beinah unbekannt.

Gründe und Ablauf der Migration

Beginnen wir zunächst mit der Ursache, die über eine halbe Million Menschen dazu veranlasste ihre Heimat zu verlassen: Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts spitzte sich die schlechte Versorgungslage in Ostpreußen, Posen und Schlesien immer weiter zu. Auf der einen Seite hatte die angehende Industrialisierung für ein anhaltendes Bevölkerungswachstum gesorgt. Auf der anderen Seite jedoch stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung in einzelnen, vor allem ländlichen Gebieten. Arbeitslosigkeit und Hunger waren die Folgen. Eine Lösung ergab sich um 1870 zunächst für die vielen arbeitslosen Männer der ostpreußischen Provinzen.

Mit der Gewährung der Freizügigkeit innerhalb Preußens 1867 und der Entstehung des Deutschen Reiches 1871 machten sich die ersten jungen Arbeiter auf den Weg Richtung Westen. Einmal im Deutschen Reich angelangt, reisten die meisten von ihnen weiter in das Ruhrgebiet. Erfahren hatten sie von dem dortigen Arbeitskraftmangel im Bergbau und der Schwerindustrie durch professionelle Anwerber. Die waren bald aber nicht mehr nötig. Schnell breitete sich über Familien und Freunde die Nachricht aus, dass sich hier sichere Arbeitsplätze finden ließen. Daraufhin entwickelte sich der Zuzug zu einem echten Massenphänomen. Allmählich befanden sich unter den Zuziehenden auch Frauen auf der Suche nach Arbeit.

Eine Gemeinschaft entwickelt sich

Auch wenn die polnischen Arbeiter:innen faktisch „nur“ innerhalb eines zusammenhängenden Reiches migriert waren, gab es wenige kulturelle Anknüpfungspunkte an ihrer neuen Bleibe. Mit ihren starken lokalen Traditionen, den polnischen Dialekten und ihrer ausgeprägten – meist katholischen – Religiosität fanden die Neuankömmlinge in Westfalen kaum Anschluss. Aber auch zwischen den einzelnen Einwander:innen bestanden je nach Herkunftsort große kulturelle Unterschiede und damit wenig gegenseitiger Kontakt. Dementsprechend entwickelten sich in einzelnen Städten und Stadtvierteln des Ruhrgebiets schnell kleine, homogene Siedlungen. Ihre Bewohner:innen stammten alle aus der selben Region im Osten des Landes.

Innerhalb dieser Bezirke wiederum entstand ein reges Vereinsleben. Ziel dieser Vereine war in erster Linie die Aufrechterhaltung und Pflege der eng begrenzten, lokalen Kultur des Herkunftsortes. Darüber hinaus boten sie ihren Mitgliedern vielfältige Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, Zugang zu Seelsorge und einen allgemeinen, sozialen Rückhalt im Alltag. Politische Programme wurden dabei explizit ausgeschlossen. Ungeachtet dessen dominierten innerhalb der Vereine um 1900 nationalistische Ansichten, die zumindest den Abstand zu anderen polnischen Communities verringerten.

Konflikte der Ruhrpolen mit dem Staat

Zu Konflikten führte diese Entwicklung vor allem durch die europaweit steigenden Nationalismen. So standen sich innerhalb des Deutschen Reiches bald eine hoch nationalistische, deutsche Gesamtbevölkerung und eine ebenso nationalistische und lokal isolierte, polnische Community gegenüber. Dabei behielten die deutschen Behörden meist die Oberhand.

Kraft ihres Amtes konnten sie um die Jahrhundertwende ungehindert polnische Seelsorger abberufen. 1909 richteten sie sogar eine „Zentralstelle für die Überwachung der Polenbewegung“ in Bochum ein. Darüber hinaus erließen sie mehrere Verbot zum Gebrauch der polnischen Sprache inner- und außerhalb ihrer Vereine. Eine der schwerwiegendsten Maßnahmen jedoch war für die Ruhrpolen die geförderte Ansiedlung deutscher Bürger:innen in Ostpreußen. Eine Rückkehr in ihre nunmehr von Deutschen beanspruchte Heimat, das Endziel vieler polnischer Arbeiter:innen in Westfalen, wurde dadurch beinah unmöglich gemacht. Ziel all dieser Schikane war derweil die massive Eindämmung des polnischen Nationalismus.

Ein Teil der Maßnahmen gegen die oft katholischen Ruhrpolen erließ Bismarck im Zuge des „Kulturkampfes“ gegen die katholische Kirche. Abbildung: Karrikatur von Wilhelm Scholtz „Zwischen Berlin und Rom“ aus demSatiremagazin „Kladderadatsch“, 16. Mai 1875, gemeinfrei.

Alternative Haltungen vor dem Ersten Weltkrieg

Zwischen diesen verhärteten Fronten mit nationalistischen Ruhrpolen auf der einen und der deutschen Staatsmacht auf der anderen Seite begann sich innerhalb der polnischen Community allmählich der Wille zur Integration auszubreiten. Vor allem ruhrpolnische Frauen, die in deutschen Haushalten angestellt waren, trugen deutsche Kultureinflüsse in ihre Familien. Da es zunächst keine polnischen Vereine für Frauen gab, schlossen sie sich außerdem bevorzugt deutschen, religiösen Vereinigungen, wie dem Elisabethenverein, an. Die Männer wiederum traten ab 1910 vermehrt nicht-polnischen, ansässigen Schützenvereinen bei. Aber auch die, die sich auf Mitgliedschaften in polnischen Vereinen beschränkten, interessierten sich nicht automatisch für die polnische Nationalbewegung.

Diese neue, anpassungswillige Haltung eröffnete ein großes Konfliktfeld innerhalb der Community. Während die einen an einer neuen Existenz mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der deutschen Gesamtgesellschaft arbeiteten, sahen die anderen darin den Zusammenbruch der unmittelbaren polnischen Umgebung. Und tatsächlich brachte die fortschreitende Assimiliation eine sichtbare Entfremdung der nachwachsenden Generationen von polnischen Kulturgütern mit sich.

Getrennte Wege nach 1918

Zum endgültigen Bruch zwischen den nationalistischen und den weitestgehend assimilierten Ruhrpolen kam es schließlich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918. Die Entstehung eines polnischen Staates stellte sie plötzlich vor die Wahl in die ursprüngliche Heimat zurückzukehren oder zu bleiben. Dazu schrieb der Versailler Vertrag eine Frist von zwei Jahren fest. Bis dahin waren die Ruhrpolen zu einer Entscheidung über ihren weiteren Verbleib gezwungen. Wer sich nicht dazu entschloss auszuwandern musste auf eine polnische Staatsbürgerschaft verzichten. Denn Pole oder Polin blieb per Gesetz nur, wer nach Polen übersiedelte.

Obwohl sich die wirtschaftliche Lage in ihren Herkunftsgebieten in der Zwischenzeit nicht gebessert hatte, wählte etwa ein Drittel der Ruhrpolen den Weg zurück. Was sie dabei erhofften, war wohl die ersehnte kulturelle Einheit ohne diskriminierende Einschränkungen von außen. Die Realität sah jedoch weniger rosig aus. So hatten sich in ihren Herkunftsregionen derweil andere Siedler:innen niedergelassen. Erneut mussten die zurückgekehrten Ruhrpolen um Arbeitsplätze und darüber hinaus um Landflächen und andere Ressourcen bangen.

Als die ersten Nachrichten über die schwierige Situation in Polen durchsickerten, ebnete die Welle an Rückkehrer:innen aus Deutschland zügig ab. Etwa die Hälfte der Ruhrpolen, die sich nicht für die erneute Migration nach Polen entschieden hatten, verließ Deutschland jedoch zeitgleich Richtung Westen. Hintergrund dieser Entwicklung war die aktive Werbung um Arbeitskräfte für die Industrie in Frankreich und Belgien. Mit diesem zweiten Migrationsangebot schrumpfte die Anzahl der in Deutschland verbliebenen Polen um etwa zwei Drittel im Vergleich zur Vorkriegszeit.

Der Bund der Polen in Deutschland und das Erbe der Ruhrpolen

Obwohl die meisten Rückkehrer:innen aufgrund ihres ausgeprägten Nationalbewusstseins die „Heimreise“ antraten, bedeutete die Entscheidung zu bleiben nicht gleich eine Absage an die polnische Kultur. Im weiteren Verlauf der Weimarer Republik sorgten unter anderem politischen Reibereien zwischen Polen und Deutschland für einen erneuten Auftrieb der polnischen, nationalen Bewegung. Im Zuge dessen entstand 1922 in Berlin der Bund der Polen in Deutschland. Erklärtes Ziel dieser Organisation war und ist die Förderung der polnischen Kultur sowie – bis heute! – die konsequente Anerkennung als nationale Minderheit in Deutschland.

Unter den großen Hürden, denen sich der polnische Bund im Laufe der Jahrzehnte stellen musste, war neben der nationalsozialistischen Verfolgung bis 1945 vor allem die fortschreitende Auflösung der polnischen Sozialstrukturen und Kultureinflüsse in Deutschland. Ein Jahrhundert später finden wir in Telefonbüchern und Ortsverzeichnissen sämtliche Namen, die an eine polnische Herkunft erinnern. Sie sind aber längst in der deutschen Kultur aufgegangen. Somit zählt die Geschichte der Ruhrpolen zu den Beispielen beinah vollständiger Assimilation. Die meisten kulturelle Hinterlassenschaften sind im Laufe des einseitigen Integrationsprozesses leider verloren gegangen.

Titelbild: Schlagzeile der Vereinszeitschrift des Bunds der Polen in Deutschland "Polak w Niemczech" vom 1. April 1925. Gemeinfrei. 
Anmerkung und Lesetipp: Bei dem obigen Beitrag handelt es sich im Wesentlichen um eine Zusammenfassung des informativen Beitrags "Die Ruhrpolen" von David Skrabania auf der Seite des Westfälischen Landesmuseums für Industriekultur (LWL).
Mit ihrem vielfältigen Angebot an historischen Fotos und Objekten zur Geschichte der Ruhrpolen können wir diese Seite allen Interessierten wärmstens empfehlen!

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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