17 Zeitzeugengespräche, 29 Biografien, ein kurzes Experteninterview und über 550 private Fotografien – so viel erwartet die Besucher:innen der Online-Ausstellung De-Zentralbild.de. Nach intensiven Recherchen und Gesprächen ging das Projekt vor wenigen Wochen an den Start. Anders als in vielen kleineren, spezifischen Darstellungen, vermittelt die Website eine breite Palette an unterschiedlichen, migrantischen Alltagserfahrungen in der DDR. Wie es zu dieser Idee kam, wer dahinter steckt und was wir hieraus entnehmen können, verrät der folgende Beitrag.

Worum geht’s?

Auch in der DDR gab es Einwanderung. Das haben wir in vorherigen Beiträgen bereits herausgestellt. Sucht man im Internet nach bildlichen Zeugnissen von migrantischem Leben in der DDR stößt man aber meist nur auf propagandistische Fotos des SED-Regimes. Sie zeigen Menschen mit Migrationsgeschichte im Arbeitskontext oder auf öffentlichen Zeremonien. Hier war die Anwesenheit von Migrant:innen erwünscht, diente sie doch dazu, der Welt, der eigenen Bevölkerung und nicht zuletzt dem Nachwuchs internationale Solidarität zu beweisen. Über das tatsächliche Alltagsleben der Migrant:innen sagen diese Bildzeugnisse wenig aus.

Aus diesem Grund hat es sich eine Gruppe engagierter Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Designer:innen in einer Kooperation mit DOMiD e.V. zum Ziel gesetzt, private Fotografien und Geschichten von Migrant:innen in der DDR zu sammeln. Gefördert wurden und werden sie dabei unter anderem von der Kulturstiftung des Bundes, der Bundesstiftung Aufarbeitung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Herausgekommen ist eine spannende und multiperspektivische Online-Ausstellung mit dem Titel „De-Zentralbild“. Angelehnt ist dieser Name an die 1952 gegründete staatliche Bildagentur der DDR, die Zentralbild. Heute ist es an der Zeit, Perspektiven in den Fokus zu rücken, die bisher eben nicht zentral im Bild standen.

Meine politische Kritik [am Migrationsregime der DDR] ist, dass die Migrationsverhältnisse in der DDR gerade nicht an Normen wie Internationalismus, Solidarität und Völkerfreundschaft orientiert waren.

Patrice G. Poutrus im Experteninterview auf De-Zentralbild.de, Mai 2023

De-Zentralbild: eine Darstellung individueller Schicksale

‚Vielfalt und Widersprüche aufzeigen‘ ist ein Motto unter dem die Online-Ausstellung De-Zentralbild stehen könnte. Unter dem Reiter „Archiv“ finden Nutzer:innen der Website insgesamt 29 unterschiedliche Biografien, teils mit Videoaufnahmen aus dem Zeitzeugengespräch, immer mit Fotos aus dem privaten Fotoalbum. Zeitlich umfasst die Sammlung die Jahre 1957 bis 1990. Ein Schwerpunkt liegt jedoch auf den späten 1970er und 1980er Jahren, als die sogenannte Vertragsarbeit in der DDR ihren Höhepunkt erreichte. Dazu schloss das Regime Verträge mit Ländern auf der ganzen Welt, unter anderem Mosambik, Vietnam und Algerien, aber auch mit Polen und Ungarn.

Nicht alle Herkunftsländer sind in der Online-Ausstellung vertreten. Vielmehr konzentriert sie sich hauptsächlich auf BIPoC, das heißt nicht-weiß gelesene Menschen in der DDR. Darunter fallen auch Kinder politischer Exilant:innen und viele mehr. Bezüglich ihrer Herkunft, ihrer Aufenthaltsdauer und Alltagserfahrungen liegen die Geschichten, die sie erzählen, weit auseinander. Dennoch gibt es wiederkehrende Themen, die den Nutzer:innen von De-Zentralbild.de auch allgemeine Einblicke in die ostdeutsche Migrationsgeschichte bis 1990 ermöglichen:

Von Abhängigkeit und Alltagsrassismus

Yolanda ist zwanzig, als sie 1978 zur Ausbildung aus Kuba in die DDR migriert. Hier möchte sie Chemie studieren. ‚Geht nicht‘, erfährt sie vor Ort. Stattdessen muss sie eine Ausbildung als Zerspanungsfacharbeiterin in der Fabrik machen. Denn die werden in dieser Zeit stark gesucht. Nach anfänglichem Ärger über die vorweggenommene Entscheidung fügt sich Yolanda in das Leben in der Fabrik und in der ostdeutschen Gesellschaft gut ein. Sie fühlt sich hier wohl und integriert, wobei sie aufgrund ihrer Hautfarbe immer wieder von Deutschen angesprochen oder sogar betatscht wird.

Knapp zehn Jahre nach Yolandas Ankunft, im Jahr 1987, verschlägt es Augusto Jone Munjunga als Vertragsarbeiter nach Eberswalde. Dort arbeitet der gelernte Finanzkaufmann in einem Schlachtbetrieb. Das in Aussicht gestellte Studium rückt bei der harten Schichtarbeit immer weiter in die Ferne. Da ihm bei der Ankunft sogleich der Pass abgenommen wurde, befindet sich Augusto in totaler Abhängigkeit vom ostdeutschen Regime. Im Nachhinein betrachtet er sein damaliges Arbeits- und Lebensverhältnis als moderne Sklaverei. Zu dieser Zeit jedoch nutzt er jede Möglichkeit sich einzubringen: als Sprecher im Betrieb, im Fußballverein und in einer eigenen Band. In diesem Kontext erfährt er Anerkennung.

Gewalterfahrungen nach der Wende

Spätestens nach Feierabend ist es mit der Freundschaft zwischen Deutschen und ihren nicht-deutschen Kolleg:innen jedoch vorbei. Nach der Wende wird es noch schlimmer. Am 24. November 1990 prügeln rechtsextreme Männer seinen guten Freund Amadeu Antonio nachts auf der Straße zu Tode. Auch Augusto lebt in dieser Zeit in ständiger Todesangst. Trotzdem bleibt er anders als viele Menschen mit Migrationsgeschichte weiterhin in Ostdeutschland. 1994 gründet er einen Verein. Er soll ihm und anderen nicht-weißen Menschen in der Region einen Rückzugort vor der rassistischen Umgebung bieten.

Schwarze Ostdeutsche

Rassismus gehört zur alltäglichen Lebenserfahrung von BIPoC in der DDR. Das bekommt auch Annette zu spüren, obwohl sie in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Als Kind soll sie sich stets darum bemühen nicht weiter aufzufallen, alles richtig zu machen und am besten besser in der Schule zu sein als ihre weißen Mitschüler:innen. Das bekommt sie von ihrer Mutter eindringlich vermittelt, in der Hoffnung, dass Annette Rassist:innen damit keine Angriffsfläche bietet. Vor Ungleichbehandlung bewahrt sie das nicht. Aufgrund ihrer Hautfarbe darf Annette als Geigerin nicht im Orchester mitspielen. Das würde angeblich das Publikum von der Musik ablenken. Davon abgesehen bemerkt sie in ihrem Alltag kaum Ablehnung aufgrund ihres Aussehens. Ihr Leben unterscheidet sich wenig von dem ihrer weißen Mitschüler:innen.

Positive Beispiele

Aber auch nicht-weiße Menschen fühlten sich in der DDR zum Teil gut integriert. Sie können von echten Freundschaften mit weißen Kolleg:innen berichten. Ein Beispiel ist die Geschichte von Dang Thi Thìn. 1971 beginnt die Vietnamesin ihr Studium an der TU Dresden. Als eine Kommilitonin ihr großes Heimweh bemerkt, lädt sie Thìn zu sich nach Hause und zu ihren Eltern ein. Diese nehmen sie auf wie eine zweite Tochter. Seit Ende der 1980er Jahre lebt Thìn wieder dauerhaft in Vietnam. Doch bis heute zündet sie manchmal die Kerzen ihrer deutschen Weihnachtspyramide an und erinnert sich gerne an ihre ostdeutschen Freunde.

De-Zentralbild als ergänzender Wissensspeicher

Wie Thìn ist vielen Zeitzeug:innen ihre Jugend in der DDR in positiver Erinnerung geblieben. Selbst rassistische Übergriffe im alltäglichen Leben werden mit einem Lachen im Gesicht erzählt. Ihre Erzählungen sind von Widersprüchen, Hoffnung und Enttäuschung, Angst und Zuversicht geprägt. Das liegt zum Teil an den extremen Umständen, zum anderen auch an der Situation, in der die Interviews geführt wurden. Während einige Zeitzeug:innen bis heute in Deutschland leben, sind die meisten wie Thìn irgendwann in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Festgehalten wurden ihre Erfahrungen auf Fotos zu besonderen Anlässen, auf Feiern im kleinen Wohnheimzimmer und dergleichen. Über die zeitliche und geografische Distanz hinweg prägen diese glücklichen Momentaufnahmen die Erinnerungen an das Leben in Deutschland bis heute.

Dabei ist es nicht die Aufgabe von Historiker:innen, den Zeitzeug:innen zu widersprechen und auf die vielen Ungerechtigkeiten hinzuweisen, die die Zeitzeug:innen erlitten haben, so Patrice G. Poutrus. In einem Interview mit den Macher:innen der Ausstellung betont der Historiker die großen Chancen der gesammelten, privaten Fotozeugnisse: Es handelt sich hierbei um eine Ergänzung bisheriger politikgeschichtlicher Perspektiven auf das Thema Migration in die DDR. Als solche werden die materiellen Zeugnisse dauerhaft von der migrantischen Organisation DOMiD e.V. verwahrt.

Die Herausforderung besteht meines Erachtens gerade darin, persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Verhältnisse in eine plausible Beziehung zu setzen und diese nicht gegeneinander aufzurechnen.

Patrice G. Poutrus im Experteninterview auf De-Zentralbild.de, Mai 2023
Titelbild: Für das Projekt De-Zentralbild haben rund dreißig Zeitzeug:innen ihre privaten Fotoalbum geöffnet. Über 550 historische Fotos sind auf De-Zentralbild.de einsehbar. Bild: Pixabay, gemeinfrei. 

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Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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