Am 23. November 1973 stoppt das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) unter der Regierung Willy Brandts die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer für den deutschen Arbeitsmarkt. Dieser Stopp betrifft nicht nur die Neuanwerbung von sogenannten Gastarbeitende fast sämtlicher Anwerbestaaten, auch für die schon in Deutschland lebenden Arbeitskräfte hat der Erlass Konsequenzen.

– Abschrift –

5300 Bonn, den 23. November 1973
Postfach
Fernsprecher: 741
Durchwahl: 74

Der Bundesminister
für Arbeit und Sozialordnung
IIc 1 – 24200 – A –

Fernschreiben
Herrn
Präsidenten der Bundesanstalt
für Arbeit
85 Nürnberg
Regensburger Str. 104

Betr.: Ausländische Arbeitnehmer;
hier: Vermittlung durch die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit

Es ist nicht auszuschließen, daß die gegenwärtige Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflußen wird. Unter diesen Umständen ist es nicht vertretbar, gegenwärtig weitere ausländische Arbeitnehmer über die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit für eine Arbeitsaufnabme in der Bundesrepublik zu vermitteln.

Nach Zustimmung durch das Bundeskabinett bitte ich, unter Bezugnahme auf § 19 Abs. 4 AFG die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit – ausgenommen die Deutsche Kommission in Italien – anzuweisen, ab sofort die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer einzustellen. Diese Maßnahme gilt bis auf Widerruf.

Ausländischen Arbeitnehmern, die im Ausland bereits einen Arbeitsvertrag abgeschlossen haben, ist die zur Einreise und Arbeitsaufnahme notwendige Legitimationskarte jedoch noch auszustellen. In diesem Zusammenhang bitte ich, mir mitzuteilen, in wieviel Fällen mit ausländischen Arbeitnehmern, die auf Kosten inländischer Unternehmen im Herkunftsland auf ihre berufliche Tätigkeit in der Bundesrepublik vorbereitet werden, bereits Arbeitsverträge abgeschlossen worden sind.

Bezüglich derjenigen ausländischen Arbeitnehmer aus Anwerbestaaten, die mit Sichtvermerk in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen, gilt nach wie vor der ErlaB des Bundesministers des Auswärtigen vom 28. Juni 1973 – 513 – 540.30 -.

Weiterhin bitte ich, Ihre Dienststellen im Inland anzuweisen, bei der Neuerteilung von Arbeitserlaubnissen für ausländische Arbeitnehmer gem. § 19 Abs. 1 Satz 2 AFG i.V. mit § 1 Arbeitserlaubnisverordnung streng zu prüfen, ob eine Erneuerung der Arbeitserlaubnis aufgrund der Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes verantwortet werden kann.

Die vorgesehenen Maßnahmen dürften die Gefahr der illegalen Beschäftigung tendenziell erhöhen. Ich bitte daher, Ihre Dienststellen im Inland anzuweisen, daß sie die zur Verfügung stehenden Mittel voll einsetzen.

Ich habe den Bundesminister des Auswärtigen gebeten, über die deutschen diplomatischen Vertretungen die Regierungen der betroffenen Anwerbestaaten in geeigneter Weise von dem zeitweiligen Anwerbestopp zu unterrichten und hierfür um Verständnis zu bitten. Die Sozialattaches der Botschaften der Heimatländer werden von hier aus unterrichtet.

Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung
– 11 c 1 – 24200 – A
Arendt

Quelle: Anwerbestopp 1973 | bpb.de

„Benzin ausverkauft“ – Ursache

Knapp eineinhalb Monate zuvor, am 17. Oktober 1973, drehte der Mittlere Osten dem Westen den „Hahn des schwarzen Goldes“ ab. Wo jahrzehntelang Erdöl zu Billigpreisen in Strömen geflossen war und damit die Wirtschaft der Nachkriegszeit zum Aufblühen gebracht hatte, kam es nun zu Autobahnen voller liegengebliebener Autos, deren Tanks leer waren. Hamsterkäufe von Benzinvorräten, Schlangen vor dem Arbeitsamt und kalte Wohnungen brachten längst verdrängte Schreckensbilder an Jahre des Mangels zurück. Die Ölpreiskrise verursachte weltweit eine konjunkturelle Krise und führt in den Industriestaaten zur Rezession. Auch strukturell gab es Veränderungen in Deutschland: die standardisierte Massenproduktion ging zurück, ungelernte Kräfte, des Deutschen noch nicht mächtig, konnten nicht mehr einfach so eingestellt werden.

Reaktionen in der BRD

Die wirtschaftliche Krise zwischen Herbst 1966 und Sommer 1967 war die erste seit Gründung der BRD. Private und öffentliche Investitionen gingen zurück, es kam zur Stilllegung von Produktionsstätten und zunehmender Entlassung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. 1967 gingen knapp 3900 Unternehmen Konkurs. Während 1965 das Bruttosozialprodukt im Vergleich zum Vorjahr um 5,7% gestiegen war, waren es im Jahr 1966 nur noch 2,8 %. 1967 fiel das Bruttosozialprodukt gar um 0,2% – zum ersten Mal in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Diese Entwicklungen und die damit einhergehende Rezession wurden in der Bevölkerung als tiefer Einschnitt in das Selbstwertgefühl der bis dato unaufhaltsam florierenden deutschen „Wirtschaftswunderrepublik“ empfunden. In der an Wachstum gewöhnten Bevölkerung entstand eine Irritation und schwelende Unsicherheit, welche zu Ängsten führte. Stimmen wurden laut, die die wachsende Gefahr illegaler Beschäftigung von Menschen aus dem Ausland beschworen und mehr und mehr Menschen an Sinn und Nutzen von Gastarbeit zweifeln ließ. Parallel dazu wurden die durch Anwerbeprogramme entstehenden „Kosten“ auf sozialer wie politischer Ebene mehr und mehr zum Mittelpunkt regierungspolitischer Diskussionen.

Anwerbestopp uns seine Konsequenzen

Der Anwerbestopp führte jedoch nicht zum eigentlich gewünschten Ergebnis – eher im Gegenteil. Denn zwar sank die Zahl ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter – die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer stieg jedoch beständig an. Der ursprünglich als vorübergehend gedachte Aufenthalt der „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ wurde durch den Stopp zum Daueraufenthalt: kein „Gastarbeiter“ wollte mehr in sein Herkunftsland zurückkehren, da ihm bei Wiederkehr nach Deutschland die erneute Arbeitsgenehmigung verweigert wurde. Auch waren viele Arbeiterinnen und Arbeiter finanziell noch nicht an dem Punkt angekommen, sich und ihre Familien daheim wirtschaftlich ausreichend unterstützen zu können. Viele Heimatländer boten ihnen schlichtweg keine Aussicht auf eine sichere Zukunft. Stattdessen holten die „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ nun ihre Familien nach Deutschland und richteten sich auf eine Zukunft in der Fremde ein.

Inflation, Lieferengpässe, steigende Zinsen – mit der Rezession stieg die Zahl erwerbsloser ausländischer Arbeitenden. Immer mehr Familien mussten Arbeitslosengeld und Sozialleistungen beziehen. Die nachziehenden Familienangehörigen – vornehmlich Ehepartner und Kinder – waren nicht berufsstätig, was die bis dato stattgehabte „Pufferfunktion“ der „Gastarbeiter“ für den deutschen Arbeitsmarkt wirkungslos machte.

Wie ging es weiter nach dem Anwerbestopp 1973

Die Lage musste dringend entspannt werden. Ende 1974 wurde entschieden, bestimmte Branchen vom Anwerbeverbot freizustellen. So durften ab sofort im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Bergbau und den Branchen Fisch-, Konserven sowie Torfindustrie wieder Arbeitskräfte aus dem Ausland rekrutiert werden. Eine Besonderheit wies der Vertrag mit Südkorea auf, in dem Artikel 1 das Ziel konstatierte, die „beruflichen Kenntnisse der koreanischen Bergarbeiter zu erweitern und zu vervollkommnen“. Infolgedessen galt die Anwerbung koreanischer Bergarbeiter als „technische Entwicklungshilfe“ und musste auch 1973 unter dem Stopperlass nicht unterbrochen werden. Bis 1977 kamen südkoreanische „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ für den Bergbau und die Krankenpflege.

Zeitgleich wurde jedoch eine Arbeitsmarktzugangssperre für die schon in der BRD lebenden „Gastarbeitenden“ verhängt. Sofern sie nicht schon in einem Beschäftigungsverhältnis standen, durften aus dem Ausland gekommene Arbeitskräfte dieses nicht mehr erstmalig eingehen. Die wenigen Ausnahmen, die es gab, galten für Branchen, in denen der Bedarf an Arbeitern überdurchschnittlich groß war.

Einwanderungsland Deutschland

Weiterhin zogen die Familien der „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ ihren Ehemännern, Vätern, Ehefrauen und Müttern nach Deutschland hinterher. Zu Beginn der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 betrug der Anteil der ausländischen Bevölkerung gut 4,8 Millionen Menschen. Deutschland wurde vom „Gastarbeiterland“ zum Einwanderungsland. Aus „Gastarbeitenden“ wurden Einwanderer.

Die Frage, ob die Integration der damals nach Deutschland kommenden „Gastarbeiterfamilien“ gelungen ist, wird bis heute kontrovers diskutiert bzw. beantwortet.

Titelbild: Rote Ampel. Foto: von Hans auf Pixabay, gemeinfrei

Über den Autor

Antonia Kennel

... ist Schauspielerin, Hypnotherapeutin, NLP-Trainerin und Ärztin. Geboren und aufgewachsen in Bayerisch-Schwaben. In ihrer Freizeit schreibt sie für verschiedene Magazine.

Alle Artikel anzeigen