Heute vor 60 Jahren, am 16. Dezember 1963, unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und Südkorea ein Abkommen für das  „Programm zur vorübergehenden Beschäftigung von koreanischen Bergarbeitern im westdeutschen Steinkohlebergbau“. Mit einem Dreijahres-Vertrag in der Tasche kamen etwa 8.000 südkoreanische Männer in die Bundesrepublik, um die herrschende Arbeitskräfteknappheit zu lindern und zugleich die eigenen beruflichen Kenntnisse zu erweitern.

Von insgesamt 75 Millionen DM deutscher Entwicklungshilfe für Südkorea sollten knapp 21 Millionen DM in den Ausbau der staatlichen Kohlengruben investiert werden. Neben der monetären Unterstützung sah die Bundesrepublik einen weiteren Beitrag zur Entwicklungshilfe in Südkorea vor.

Vier Jahre später

Doch es gab auch eine zweite „Wanderung“ von Südkorea in die Bundesrepublik: von 1962 bis 1977 kamen etwa 10.000 Frauen aus Südkorea und weiteren asiatischen Staaten nach Deutschland, um in hiesigen Krankenhäusern als Krankenschwestern und in der Krankenpflege zu arbeiten. Diese Einwanderungsbewegung lief zunächst über Vereinbarungen zwischen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Korea Overseas Development Corporation (KODCO). Erst am 21. Juli 1971 trat mit dem Programm zur Beschäftigung qualifizierter koreanischer Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen in deutschen Krankenhäusern ein gesetzlich geregeltes bilaterales Anwerbeabkommen in Kraft.

Integration? Gelungen!

Anders als sognannte „Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen“ aus der Türkei blieb die verhältnismäßig kleine Gruppe von „Gastarbeitern“ aus Südkorea auf eine gewisse Art unsichtbar in Deutschland, zumindest für das kollektive Gedächtnis. Dabei galten gerade die Südkoreaner als besonders gut integriert. Der Koreanistikprofessor Dr.  You Jae Lee (Uni Tübingen), selbst Sohn eines Gastarbeiters, beschreibt die Entstehung dieses „Labels“, dem er sehr kritisch gegenübersteht, folgendermaßen: südkoreanische „Gastarbeiter“ erhielten einen auf drei Jahre befristeten Arbeitsvertrag, ein dauerhafter Aufenthalt war – wie zunächst auch bei „Gastarbeitern“ anderer Länder – nicht geplant. Zugleich war den Südkoreanern Zusammenhalt, Familie, Gemeinschaft sehr wichtig. Ergo blieben die „Gastarbeiter“ in enger Gemeinschaft unter sich, indem sie eigene Vereine gründeten und mit Vorliebe untereinander heirateten. Gemeinsame Sprache, Gepflogenheiten und kulturelles Verständnis bedeuteten etwas Heimat in der Fremde. Außerdem war die Ehe mit einer südkoreanischen Frau im Krankenpflegedienst eine Möglichkeit, das befristete Arbeitsverhältnis zu verlängern. Dadurch ergaben sich berufliche Aufstiegschancen oder die Option eines Studiums in Deutschland.

Vereinsleben und Veränderungen soziokultureller Strukturen

Das sehr aktive Vereinsleben der südkoreanischen „Gastarbeiter“ war ein Grund für ihre gute Integration, so Koreanistikprofessor Lee. Im Verein blieben die Leute aktiv, fühlten sich sozial und mental gut eingebunden und aufgehoben. Die für die Vereinsetablierung nötige Selbstorganisation führte dazu, dass sich die Einwanderer mit den Strukturen der deutschen Gesellschaft und Kultur auseinandersetzen mussten und dabei zusätzlich gesunde Selbstwirksamkeit erlebten.

Fast gezwungenermaßen veränderten sich hier in Deutschland die im damaligen Korea herrschenden patriarchalischen Grundzüge: südkoreanische Frauen blieben auch nach Ende einer Ehe berufstätig, denn sie mussten Geld verdienen, um ihre Aufenthaltserlaubnis zu behalten.

Glück auf!

In Booklaunch (Lesung und Gespräch am 22.10.2021 online auf Youtube) seines Buches „Glück Auf! – Lebensgeschichten koreanischer Bergarbeiter in Deutschland“ (2021) erzählt Prof. Dr. Lee von seinen Interviews mit ehemaligen Gastarbeitern. Im Lauf des Gesprächs erfährt man nochmal ganz andere Blickwinkel auf die Geschichte der südkoreanischen Gastarbeiter.

Lee, You Jae (Hg.): Glück Auf! Lebensgeschichten koreanischer Bergarbeiter in Deutschland, 2021 ·
ISBN 978-3-86205-563-0 · 209 Seiten, EUR 20,—
(Tübinger Reihe für Koreastudien, Bd. 4, hrsg. von You Jae Lee)

Zum Beispiel war die Entwicklungshilfe Deutschlands eine Konsequenz des Kalten Krieges und sollte zwei Zielen dienen: zum einen der Bindung des Ostens an die westliche Welt. Zum anderen wollte man die Arbeiter nach Ablauf der Arbeitsverträge ausgebildet und damit gut präpariert zurückschicken, damit sie dort eigenständig ihre Gesellschaft wieder aufbauen konnten. Die Emigration aus ihrem Heimatland war für viele Gastarbeiter hingegen schlichtweg eine Art Exitstrategie. In den 60er-Jahren betrug die offizielle Zahl der Arbeitslosigkeit in Südkorea 20% – inoffiziell lagen die Zahlen weit darüber.

Entgegen seiner Vermutung war es nicht einfach für Prof. Dr. Lee, Interviewpartner für sein Buch zu finden. Zur Zeit seiner Recherche um die Jahrtausendwende lebten noch ca. 1.000 ehemalige Gast-Bergarbeiter in Deutschland. Viele von ihnen hatten allerdings nach der Zeit unter Tage den Beruf gewechselt: sie wurden Taxifahrer, Automechaniker, Mediziner, Pfarrer. Dies lag unter anderem daran, dass der Beruf des Bergarbeiters von Anfang an völliges Neuland war für die Arbeiter. Daheim in Südkorea gab es diese Art der Arbeit nicht. Sie kamen zwar unter der Bezeichnung Bergarbeiter nach Deutschland, waren aber ungelernt. Zudem war die physische Belastung durch die harte Arbeit derart hoch und ging bis hin zu nicht leistbaren Anforderungen. Schon bald kam zu den ersten Streiks, in denen die Männer u.a. auch für bessere Löhne und gegen Diskriminierung demonstrierten. Auch bei den Wilden Streiks in 1973 waren die Südkoreaner aktiv.

Untergrabung des Systems

Eindrücklich schildert Prof. Dr. Lee, wie die „Gastarbeiter“ gewisse Strategien entwickelten, um sich das Leben irgendwie zu erleichtern. So entdeckten die Arbeiter das „Krankfeiern“: sie fanden Ärzte, die sie für einen Monat krankschrieben. In den vier Wochen davor wurde arbeitstechnisch richtig Gas gegeben, wodurch es zur Erhöhung der Löhne kam, die dann über den Zeitraum der Krankschreibung weiterhin gezahlt wurden. So entstand ein Rhythmus von drei Monate arbeiten – ein Monat krankgeschrieben sein. Diese „Untergrabung des Systems“ erschien keinem verwerflich, diente es einerseits fast schon zwangsläufig der einzigen Möglichkeit, körperlich einigermaßen fit zu bleiben. Andererseits hatte das Abenteuer Gastarbeitertum ja schon mit Dokumentenfälschung begonnen. Ohne den Titel „Bergarbeiter“ als Grundvoraussetzung zur Anwerbung wäre kein einziger Arbeiter aus Südkorea nach Deutschland gelangt. Insofern wurden derartige Methoden in der ansonsten höchst moralischen südkoreanischen Gemeinschaft nicht weiter hinterfragt.

Die zweite Generation

In einem Interview mit dem Mediendienst Integration beschreibt Prof. Dr. You Jae Lee ein „neues Selbstverständnis der zweiten Generation“: „Die zweite Generation hat ein ganz anderes Selbstverständnis: Ihre Angehörigen verstehen sich als Mitglieder der deutschen Gesellschaft und wollen sich einbringen. Außerdem haben sie ein größeres Bewusstsein für Ungleichbehandlungen. Sie wollen Diskriminierungen nicht einfach hinnehmen, sondern fehlende Anerkennung einklagen. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Minderheiten.“

Tipp der Redaktion „Endstation der Sehnsüchte

Auf der Berlinale 2009 lief in der Sektion Panorama der Film „Endstation der Sehnsüchte“. Drei Frauen kehren nach über 30 Jahren zurück nach Südkorea, ihr Heimatland, das sie in den 1970er Jahren verlassen haben, um in Deutschland Arbeit, Glück und Heimat zu finden. Arbeit fanden sie, auch Ehemänner, ob Glück und Heimat, sei dahingestellt. Ihren Lebensabend wollen sie nun in Dogil Maeul, dem sogenannten „deutschen Dorf“, das eigens für Leute wie sie errichtet wurde, verbringen. Gemeinsam mit ihren Ehemännern Armin, Willi und Ludwig. Auch in der alten neuen Heimat bleiben sie ihren deutschen Gewohnheiten treu: Kaffee und Kuchen nachmittags um 16:00, die Schrankwand im Wohnzimmer in Eiche rustikal, es gibt selbstgemachte deutsche Wurst und Gartenzwerge. Ein kultureller Spagat.

Die Regisseurin Sung-Hyung Cho drehte den Film basierend auf eigenen, biografischen Erfahrungen. Einfühlsam und mit zärtlicher Zuneigung gedreht, zeigen ruhige Szenen einen herrlichen Humor des Lebens, und zugleich ist ein zugrundeliegendes Gefühl von Sehnsucht ständig präsent. Denn: „Am Abend, wenn die Sonne untergeht, kommt das Heimweh. Egal, ob du 40, 50 oder 60 bist.“

Ein bezaubernder Film! Vielleicht noch eine Geschenkidee zu Weihnachten … (nur als DVD erhältlich, nicht auf offiziellen Streamingportalen)


Titelbild: Deutsch-Südkoreanische Gemeinschaftsbriefmarke, erschienen 2013, in Erinnerung an 50 Jahre südkoreanische Gastarbeiter in Deutschland (1963–2013).

Über den Autor

Antonia Kennel

... ist Schauspielerin, Hypnotherapeutin, NLP-Trainerin und Ärztin. Geboren und aufgewachsen in Bayerisch-Schwaben. In ihrer Freizeit schreibt sie für verschiedene Magazine.

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