1461 Tage sind vergangen, seitdem ein Rechtsextremist aus rassistischen Motiven neun junge Menschen in Hanau erschossen hat. Ihre Namen sind Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu. Emiş Gürbüz, die Mutter von Sedat, zählt jeden einzelnen Tag, seitdem ihr Sohn nicht mehr am Leben ist. Und auch für die anderen Angehörigen ist seit vier Jahren jeden Tag der 19. Februar. Seitdem kämpfen sie für die lückenlose Aufklärung und Aufarbeitung der Tat, aber auch für politische Konsequenzen.

Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag 

Der Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag, der sich am 14. Juli 2021 konstituierte und seine Arbeit am 28. November 2023 beendete, ging maßgeblich auf die Initiative von Angehörigen und Überlebenden des 19. Februar 2020 zurück. Darin sollten insbesondere Fragen in Bezug auf Fehler und Versäumnisse hessischer Behörden aufgeklärt werden, die durch die Mitwirkung der Angehörigen zum Großteil auch beantwortet werden konnten. Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zeigt, dass von den zuständigen Behörden sowohl vor als auch nach der Tat schwerwiegende Fehler gemacht wurden. Diese beziehen sich auf die Erteilung der Waffenbesitzkarte, die Erreichbarkeit des Notrufs, die Verschlussverhältnisse des Notausgangs und den Umgang mit den Angehörigen der Opfer. Demnach hätte „ein anderes Handeln der zuständigen Behörden das Durchführen der Tat erschwert oder den Ablauf der Tat bzw. die Ereignisse in der Tatnacht und danach verändert“.  

Die zuständige Waffenbehörde

Beispielsweise sei die Waffenbehörde der Prüfung der gesetzlichen Voraussetzung einer Waffenbesitzkarte nicht ausreichend nachgekommen, obwohl der Täter „über eine, vermutlich durch den Vater geprägte, rassistische Grundeinstellung verfügte“. Zudem „litt T.R. an einer schizophrenen Wahnerkrankung, die im Laufe der Zeit […] mit erheblichen Verschwörungsfantasien und rassistischen Umvolkungsnarrativen ergänzt wurde“. Grundsätzlich habe die Möglichkeit einer Prüfung des Widerrufs der Waffenbesitzkarte und sonstiger Maßnahmen bestanden, die allerdings vonseiten der Waffenbehörde nicht ausgeschöpft worden seien. Die Akte des Täters sei unzureichend bearbeitet worden und weise Lücken hinsichtlich angeforderter Nachweise auf, die trotz Aufforderung nicht erbracht worden seien. Dies sei auch auf mangelnde Kenntnisse waffenrechtlicher Grundlagen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Waffenbehörde zurückzuführen. 

Die Erreichbarkeit des Notrufs 

Hinsichtlich der Frage nach der Erreichbarkeit des Notrufs wurde festgestellt, dass aufgrund veralteter Technik in der Polizeistation Hanau I kein Notrufüberlauf vorhanden war. Einige Notrufe konnten daher nicht entgegengenommen werden. Andernfalls hätte Vili-Viorel Păun vermutlich überlebt. Dreimal hatte er vergeblich den Notruf gewählt, während er den Täter mit dem Auto verfolgte. Die Polizei hätte ihm von der weiteren Verfolgung des Täters abgeraten. 

Der Notausgang

Der Untersuchungsausschuss stellte auch fest, dass der Notausgang der „Arena Bar“ in der Tatnacht höchstwahrscheinlich verschlossen war. Das ergab sich sowohl aus Zeugenaussagen als auch aus Videoaufnahmen. Auch ein am Tatort eingetroffener Kriminalbeamter habe gegen 02:30 Uhr feststellen können, „dass sich zumindest zu diesem Zeitpunkt die Notausgangstür nicht öffnen ließ“. Zudem sei unter den Gästen der Arena Bar allgemein bekannt gewesen, dass der Notausgang in der Regel verschlossen war. Das wirkte sich laut dem Untersuchungsausschuss auf ihr Fluchtverhalten am Abend des 19. Februar aus. Eine durch die Angehörigen beauftragte Gruppe mit dem Namen „Forensic Architecture“ kam zu dem Ergebnis, „dass wahrscheinlich fünf von sieben Personen die Flucht durch den Notausgang gelungen wäre“, wenn dieser zur Zeit der Tat offen gewesen wäre. Aus Sicht des Untersuchungsausschusses sei jedoch vor allem entscheidend gewesen, „dass die Anwesenden davon ausgingen, dass der Notausgang verschlossen und damit keine Fluchtoption war“. 

Der Umgang mit den Angehörigen

Auch in Bezug auf den Umgang mit den Angehörigen und Überlebenden der Tat stellte der Untersuchungsausschuss Versäumnisse und Fehler fest. Insbesondere das lange Warten auf Informationen über den Verbleib ihrer Liebsten hätten die Angehörigen als sehr belastend empfunden. Auch die Überbringung der Todesnachrichten sei vonseiten der Polizei empathielos erfolgt, indem eine Liste mit Namen verlesen wurde. Persönliche Einzelgespräche mit den Familien hätten nicht stattgefunden. Zudem sei den Angehörigen nicht mitgeteilt worden, wo sich die Leichname der Verstorbenen befanden und ob die Möglichkeit der Abschiednahme bestand. Sie seien insgesamt mit vielen Fragen alleingelassen worden und hätten nicht ausreichend Ansprechpartner gehabt.

Für Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen

Die Angehörigen und Überlebenden hatten dafür gesorgt, dass der Untersuchungsausschuss überhaupt zustande kommt. Sie seien enttäuscht, dass trotz der Ergebnisse keine Konsequenzen gezogen würden. Auch vier Jahre nach der Tat kämpfen sie weiterhin für Aufklärung und für eine Gesellschaft, in der niemand mehr Opfer von Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus wird. Am Samstag fand in Hanau eine bundesweite Gedenkdemonstration statt, an der auch die Hinterbliebenen anderer Anschläge der vergangenen Jahre beteiligt waren. Sie erinnerten daran, dass an diesem Tag nicht nur der Opfer des 19. Februar 2020, sondern aller Betroffenen rechtsterroristischer Gewalt gedacht werde – der Ermordeten des NSU, der Anschläge auf das OEZ in München oder die Synagoge in Halle. „Wir sagen neun Namen und meinen alle“, so fasste es die Sprecherin der Initiative 19. Februar Hanau Newroz Duman zusammen. Damit sie niemals vergessen werden:

Ferhat Unvar

Gökhan Gültekin

Hamza Kurtović

Said Nesar Hashemi

Mercedes Kierpacz

Sedat Gürbüz

Kaloyan Velkov

Vili-Viorel Păun

Fatih Saraçoğlu

Am Standort der „La Votre Bar“, in der der Täter Kaloyan Velkov erschoss, wurde eine Gedenktafel angebracht.

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Quelle: Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses im Hessischen Landtag
Titelbild: Bundesweite Gedenkdemonstration in Hanau am 17.02.2024
Fotos: Annalena Piper 

Über den Autor

Annalena Piper

studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

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