Menschen mit eigener Migrationsgeschichte hat es in Deutschland schon immer gegeben. Neben persönlichen Gegenständen, ihrer Sprache, Erinnerungen, Bräuchen und Rezepten brachten sie auch eigene Musiktraditionen nach Deutschland mit. Daraus entwickelten sich in Deutschland ganze Musikszenen, die zumindest zeitweise fernab vom deutschen Mainstream existierten. Eine der bekanntesten davon ist die Musikszene der türkischen Gastarbeiter:innen in Westdeutschland und ihrer Nachkommen; eine türkisch-deutsche Musikgeschichte.

Die Gurbetçiler

Da sagen sie hau ab geh weg

Wo ist deine Heimat Türke

Dort sagen sie bleib’ weg komm nicht

Wo ist deine Heimat Türke

Für Europa bist du fremd

Und zu Hause der aus Deutschland

Stimme heiser Kopf gebeugt

Wo ist deine Heimat Türke

Auszug aus Hani senin yurdun türküm von Aşık Şahturna (Berlin, 1987); Freie Übersetzung von Volker Reinhard, nach Reinhard, de Oliveira
Pinto 1989, S. 23.

„Gurbetçiler“ heißt auf Türkisch so viel wie „die in der Fremde Lebenden“. Zwischen den 1960er Jahren und der Jahrtausendwende galt dieser Ausdruck oft stellvertretend für türkische Migrant:innen in Westeuropa. Als wichtiger Zielort stand dabei seit 1961 Westdeutschland ganz oben auf der Liste. Dementsprechend verwendeten viele Türk:innen – ob in der Türkei oder in Deutschland lebend – das Wort „gurbet“, die Fremde, geradezu synonym für Deutschland.

Als nach dem Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und der BRD 1961 – zunächst vor allem Männer – nach Westdeutschland reisten, planten sie ihren Aufenthalt als befristet ein. Arbeiten, Geld verdienen und nach einer Weile als „gemachter Mann“ in die Heimat zurückkehren – so der Traum vieler Migrant:innen aus der Türkei in den 1960er Jahren. Dabei bemerkten die Gastarbeiter:innen schnell, dass in Westdeutschland nicht nur Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch Diskriminierung und wirtschaftliche Ausbeutung auf sie warteten. Auch kulturelle, teils geografische Unterschiede zwischen dem Herkunftsland und ihrer neuen, temporären Bleibe, sowie die Distanz zu der Familie machte den Arbeitsmigrant:innen zu schaffen. Umso stärker wuchs die Sehnsucht nach dem warmen Heimatland und das Bedürfnis, ein Stück der eigenen Kultur eben auch in der Fremde auszuleben.

Leben und Lieder der türkischen Gastarbeiter:innen

Was daraus bereits in den 1960er Jahren erwuchs, war eine spezifische deutsch-türkische Musikkultur. Zunächst griffen die türkischen Arbeiter selbst in ihrer Freizeit zu der Saz, einem traditionellen Zupfinstrument, das unter anderem in Anatolien weit verbreitet ist. Stilistisch blieben die Laienmusiker dabei zunächst bei anatolischen Volksliedern. Nach und nach begannen einzelne von ihnen aber auch eigene Texte über ihr Leben in der Fremde zu dichten und eine eigene Musik dazu zu komponieren. Die gurbetçi-Musik war geboren.

Ein wichtiger Musiker, der sich noch im Laufe der 1960er Jahre zum professionellen Berufsmusiker aufschwang und alleine 72 Singles aufnahm, war der gelernte Schlosser Metin Türköz. Türköz reiste erstmals 1962 nach Deutschland, als er eine Stelle als Gastarbeiter bei der Autofirma Ford in Köln annahm. Seine Texte waren größtenteils auf Türkisch und stellten auf satirische Art und Weise die Eigenheiten der deutschen Mitmenschen, unfaire Arbeitsbedingungen und weitere Erfahrungen türkischer Gastarbeiter:innen zur Schau.

Neben Metin Türköz erwuchsen im Laufe der 1960er Jahre aber noch weitere Größen des neuen gurbetçi-Genres, wie beispielsweise die „Nachtigall von Köln“ Yüksel Özkasap. Musikalisch mischten sie je nach Herkunftsregion unterschiedliche anatolische Volksliedtraditionen. Ihr gemeinsames Thema blieb das Leben in der Fremde und die damit verbundene Sehnsucht nach der Heimat. Bekannte Topoi über Heimweh und Abschied kannten viele türkische Musiker:innen, ebenso wie ihre türkische Zuhörerschaft aus weitaus älteren Traditionen. Bereits im Osmanischen Reich hatten Saisonarbeiter ihre Migrationserfahrungen in Liedern geschildert, die die anatolische Volksmusik nachhaltig prägten.

Der Entschluss zu Bleiben

Einen entscheidenden Wandel im Leben der türkischen Migrant:innen in Deutschland stellte schließlich der Anwerbestopp 1973 dar. Für viele Gastarbeiter:innen war der Moment der Entscheidung gekommen: Bleiben oder in die Heimat zurückkehren. Die meisten entschieden sich für letztere Option. Die Übrigen entschieden sich überwiegend dafür, ihre Familien aus der Türkei nach Deutschland zu holen. Das Leben auf gepackten Koffern sollte ein Ende haben. Die Sehnsucht und der nunmehr abstrakte Wunsch eines Tages in die Türkei zurückzureisen, blieben aber bestehen.

In der Lebensrealität wiederum war nun eine tiefgehende Auseinandersetzung mit ihrem deutschen Umfeld notwendig. Nach und nach mischten sich neben anatolischen Traditionen westliche Einflüsse in die Kultur der türkischen Migrant:innen und ihrer Familien. Dies schlug sich auch in ihrer Musik nieder.

Ab den 1970er Jahren entstand in Deutschland eine spezifisch deutsch-türkische Popmusik, genau genommen mehrere Strömungen. Die bekannteste davon wird bis heute arabesk genannt. Ursprünglich stammte auch die arabesk Musik aus dem Herkunftsland ihrer Musiker:innen. Im Zuge der anatolischer Binnenmigration mischten sich zunächst unterschiedliche anatolische und libanesischer Popmusikklänge. In der BRD kamen schließlich westliche Popmusik- und Schlagereinflüsse hinzu. Zwar ist auch in arabesk-Liedern Heimweh ein zentrales Thema, konkrete Gesellschaftskritik, geschweige denn politische Forderungen fanden hier aber keinen Platz. Dafür stand der Unterhaltungswert der Musik stärker im Vordergrund.

Politische Exilant:innen aus der Türkei und die türkisch-deutsche Musikkultur

Einen erneuten politischen Auftrieb erhielt die türkisch-deutsche Musikkultur Anfang der 1980er Jahre. Als im September 1980 ein Militärputsch in der Türkei politische Freiheiten beendete, landeten mehrere türkische Intellektuelle und Künstler:innen im Exil. Ein bekanntes Beispiel in Deutschland ist der türkische Rockmusiker Cem Karaca. Während einer Tournee durch Westdeutschland 1980 wurde gegen den kritischen Musiker in Abwesenheit ein Haftbefehl erlassen. Ein Jahr später verlor er die türkische Staatsbürgerschaft. Daraufhin blieb Karaca für die folgenden Jahre in Deutschland aktiv, gründete in Köln eine eigene Band und schrieb gemeinsam mit dem deutschen Gewerkschaftler Martin Burkert das deutschsprachige Musical „Die Kanaken“.

Ähnlich wie in den frühen gurbetçi-Liedern widmeten sich auch Karacas Texte ambivalenten deutsch-türkischen Verhältnissen in Westdeutschland. Bekannt sind vor allem seine im Musical enthaltenen Lieder „Mein deutscher Freund“ und seine Vertonung des berühmten Satzes von Max Frisch „Es wurden Arbeiter gerufen/doch es kamen Menschen an“.

Neben dieser neuen Beschäftigung mit altbekannten Problemen migrantischer Communities nutzten berühmte Exilmusiker:innen aus der Türkei ihre Präsenz, um auf die politische Situation in ihrem Herkunftsland aufmerksam zu machen. Gemeinsam mit deutschen Aktivist:innen forderten sie auf politischen Veranstaltungen internationale Solidarität mit den Verfolgten der türkischen Militärdiktatur.

Keine Entspannung

Die Zeit im westeuropäischen Exil endete für Karaca ebenso wie für andere geflohene Musiker:innen mit einer verbesserten politischen Lage in der Türkei am Ausgang der 1980er Jahre. Kurz schien es, als ob die dominierenden türkisch-deutschen Musikgenres wieder ausschließlich auf Unterhaltungsmusik setzen würden. Immerhin konnten viele der ehemaligen Gastarbeiter:innen und ihre Familien auf eine inzwischen scheinbar gesicherte Existenz in Deutschland bauen. Dann kamen die 1990er und mit ihnen rassistische Ausschreitungen gegen Migrant:innen unterschiedlichster Herkunft.

Für die türkische Community stellten die Brandanschläge in Solingen und Mölln zentrale Wendepunkte dar. Auf brutale Art und Weise zeigte sich die weiterbestehende Ausgrenzung und Ablehnung türkischer Mitmenschen in Deutschland. Wieder verließen viele das Land. Bei denen die blieben, wuchs das Bedürfnis, ihrer Wut Ausdruck zu verschaffen, gegen ihre Anfeindungen aufzutreten und die eigene Identität zu stärken. Ein Medium hierfür stellte das in Deutschland neu entstehende Genre des Hip Hop dar.

Dieses Mal meldete sich nicht die erste, sondern bereits die zweite oder dritte Generation der türkischstämmigen Menschen in Deutschland zu Wort. Wie ihre Eltern und Großeltern kämpften und kämpfen sie bis heute mit komplexen Zugehörigkeitsverhältnissen. Als Deutsche mit deutschem Pass und oftmals deutscher Muttersprache erzählen die migrantischen Rapper:innen seit den 1990er Jahren von der Enttäuschung eines großen, jedoch weitgehend ausgegrenzten Teils der deutschen Gesellschaft.

Ein unsichtbares Business?

Denn, obwohl türkische und türkischstämmige Musiker:innen, Musikhändler:innen und andere Beteiligte bereits ab den 1960er Jahren vom türkisch-deutschen Musikbusiness leben konnten, blieben sie als migrantische Subkultur in Deutschland nahezu unsichtbar. In kleinen Import-Export-Geschäften, auf privaten Feiern wie Hochzeiten, aber auch an öffentlichen Treffpunkten blühte das türkisch-deutsche Musikgeschäft seit den 1970er Jahren. Gehandelt und ausgetauscht wurde hier nicht nur Musik aus der türkisch-deutschen Community. Auch für neue Einflüsse aus dem Herkunftsland der ersten Generation waren besagte Geschäfte und Events ein wichtiger Türöffner.

Ein bekanntes Zentrum türkisch-deutscher Kultur war der Türkische Basar am stillgelegten U-Bahnhof Bülowstraße in Berlin-West (siehe Titelfoto). Hier konnten Besucher:innen bis 1991 nicht nur historische Bahnwagen begutachten, sondern unter anderem auch Musikkassetten kaufen und Live-Auftritte von türkisch-deutschen Musiker:innen besuchen.

Anerkennung und Aufmerksamkeit erhielt die türkische Musikszene außerhalb der Community erst im Verlauf der 2000er Jahre. Unter anderem als Reaktion auf die Ausschreitungen gegen migrantisch gelesene Mitmenschen in den 1990er Jahren bemühten sich deutsche Veranstalter:innen um die Sichtbarmachung der gesellschaftlichen Vielfalt – auch in der Musik. Tatsächlich wuchs mit diesem neuen Angebot das Interesse auf der Seite der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Um besser an den deutschen Mainstream anknüpfen zu können, mussten sich türkische Musikprojekte in Deutschland jedoch oft mit vermeintlichen „orientalischen“ Traditionen inszenieren.

Erinnerung, Würdigung, Weiterentwicklung

Mehr um Authentizität bemüht, zeigen sich wiederum Projekte der letzten Jahre. Als einige Beispiele sind der 2022 erschienene Dokumentarfilm Ask Mark Ve Ölum des Schweinfurter Filmemachers Cem Kaya zu nennen. In einem bildgewaltigen Portrait zeigt der Film Größe und Wendepunkte des türkisch-deutschen Musikbusiness bis heute. Auch im Kölner Verein DOMiD e.V. spielt migrantisch-deutsche Musikgeschichte eine präsente Rolle.

In den vergangenen beiden Jahren, 2021 und 2022 tourte ein umfangreiches Ensemble mit bekannten türkischen Musiker:innen unterschiedlicher Generationen und Musikstile quer durch Deutschland. Ziel und Thema der Konzertreihe „Deutschlandlieder – Almanya Türküleri“ war dabei nicht nur, die Musikgeschichte der türkisch-deutschen Community in all ihrer Vielfalt und Dynamik zu feiern. Vielmehr ging es auch darum, die Leistungen und den Anteil der türkisch-deutschen Mitmenschen an einer gesamtdeutschen Geschichte aufzuzeigen.

Die Feststellung, dass ehemalige Gastarbeiter:innen viel mehr waren als nur „Gäste“ ist keine Neuigkeit. Allerdings lässt ihre kulturelle Sichtbarkeit bis heute in gesamtdeutschen Medien weiterhin zu wünschen übrig. Mit dem Ziel, die deutsche Musikgeschichte um migrantische Subkulturen zu erweitern, veröffentlichte das türkisch-deutsche Duo Ayku 2013 ein Album mit dem Titel „Songs of Gastarbeiter Vol. I“. 2022 folgte der zweite Teil. Darin finden sich gesammelte Archivschätze ehemaliger Gastarbeiter-Musiker:innen mit spanischen, griechischen, türkischen und anderen Wurzeln seit den 1960er Jahren. Auf ihrer Website kündigen die Produzenten der Alben an:

Wir sind mit Songs of Gastarbeiter noch lange nicht am Ende.

Imran Ayata & Bülent Kullukcu auf https://www.songs-of-gastarbeiter.com/about-sog, Stand 25.08.2023

Quellen:

Greve, Martin: Die Musik der imaginären Türkei. Musik und Musikleben der im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland, Berlin 2022, zweite Auflage.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/deutsch-tuerkische-popgeschichte-die-sounds-der-gastarbeiter-100.html, Beitrag vom 5. März 2021.

https://www.sueddeutsche.de/muenchen/pop-die-vergessenen-hits-der-gastarbeiter-1.5331235, Beitrag vom 23. Juni 2021.

https://domid.org/news/gastarbeiter-musik-zwischen-selbstermachtigung-und-kommerziellem-erfolg/, Stand 20.08.2023.

https://www.deutschlandlieder.de/, Stand 20.08.2023.

https://www.songs-of-gastarbeiter.com/, Stand 20.08.2023.

Liebe, D-Mark und Tod. Ask Mark ve Ölüm. Ein Musikfilm auf Deutsch und Türkisch von Cem Kaya (2022).

Titelbild: Mit dem Bau der Berliner Mauer musste der U-Bahnhof Bülowstraße in Berlin mit der betroffenen U-Bahnlinie Richtung Ost-Berlin stillgelegt werden. Zwischen 1978 und 1991 befand sich in dem Gebäude der Türkische Basar. Die deutsch-türkische Musikkultur war hier zu Hause.U-Bahnhof Bülowstraße in Berlin-Schöneberg im Mai 2011, Foto:Jörg Zägel, CC BY-SA 3.0. 

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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