Heute vor 31 Jahren beginnen in Rostock-Lichtenhagen die größten rassistisch motivierten Übergriffe in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. Die mehrere Tage andauernden Ausschreitungen ereignen sich in einer Zeit, in der allgemein die Anzahl rechtsextremer Straftaten zunimmt. Vor allem in Ostdeutschland kommt es in der Nachwendezeit zu derartigen Gewaltausbrüchen. So ist im September 1991 bereits eine Unterkunft für Vertragsarbeiter*innen und ein Asylheim in Hoyerswerda angegriffen worden. Doch was im August 1992 im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen passiert, gleicht endgültig einem Pogrom.

Die Asyldebatte in Zeiten des Umbruchs

Die erschütternden Ereignisse lassen sich nicht erklären ohne die Asyldebatte der frühen 1990er Jahre. Von den großen Parteien macht vor allem die Union bereits seit Ende der 1980er Jahre den Kampf gegen „Asylbetrug“ und Wirtschaftsflüchtlinge zu einem ihrer großen Themen.

Trotzdem profitieren schnell rechtsradikale Parteien wie Die Republikaner von der öffentlich und hochemotional geführten Debatte. So ziehen sie in mehrere Landesparlamente ein. SPD, FPD und Grüne dagegen sprechen sich zunächst alle vehement gegen eine Einschränkung des Grundrechts auf politisches Asyl aus.

Nach der Wiedervereinigung spitzt sich die Debatte dann weiter zu. Sie wird zur schärfsten und polemischsten politischen Auseinandersetzung der deutschen Nachkriegsgeschichte. Denn nach dem Zerfall des Ostblocks und dem Ausbruch des Jugoslawienkriegs steigen die Flüchtlingszahlen massiv an. Die Wiedervereinigungseuphorie dagegen wird schnell abgelöst von Frust über nicht gehaltene Versprechen seitens der Politik. Der wirtschaftliche Aufschwung im Osten, auch in Rostock, bleibt aus und die Arbeitslosigkeit steigt.

Nährboden für Vorurteile und Populismus

Schnell werden „die Ausländer“ als die Schuldigen ausgemacht. Es sind die gleichen haltlosen Argumente, die auch heute von rechtspopulistischen Parteien und Interessengruppen bemüht werden: Verantwortlich für alle Probleme Deutschlands seien die Ausländer, die anscheinend nur hierher kommen würden, um das Sozialsystem auszunutzen und Arbeitsplätze wegzunehmen.

Tatsächlich sehen sich Medien und Politik im Nachgang der Asyldebatte mit dem Vorwurf konfrontiert, populistische Meinungen bedient und dadurch gewaltsame Ausschreitungen erst möglich gemacht zu haben. Ausschreitungen wie die in Rostock-Lichtenhagen, die den bedrückenden Höhepunkt einer verhängnisvollen Kette von Ereignissen darstellen.

Warnzeichen gibt es genug

Im Sommer 1992 ist die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) in Rostock-Lichtenhagen vollkommen überfüllt. Ausgelegt für knapp 300 Personen, melden sich allein im Juni 1992 1.500 Menschen in der im sogenannten Sonnenblumenhaus untergebrachten Einrichtung. Die Polizei ist mit dem Schutz der Einrichtung zunehmend überfordert. Auf Seiten der Politik fühlt sich niemand wirklich zuständig, Verantwortlichkeiten werden hin und hergeschoben.

So sind die Asylsuchenden mehr oder weniger sich selbst überlassen. Vielen bleibt aus Platzmangel nichts anderes übrig, als unter freien Himmel vor dem Gebäude zu campieren. Die hygienischen und sanitären Bedingungen sind menschenunwürdig. Viele Anwohner*innen sehen allerdings in erster Linie die „deutsche Ordnung“ im Viertel in Gefahr.

Anfang August veröffentlicht dann eine Rostocker Zeitung anonyme Warnungen, dass es zu nächtlichen Angriffen auf die ZAst kommen werde. Forderungen, die Einrichtung zu räumen und die Menschen vorsorglich in Sicherheit zu bringen, werden laut. Die Behörden sehen die Notwendigkeit dafür aber nicht gegeben.

Der Auftakt zu noch Schlimmerem

Am 22. August 1992 versammeln sich zahlreiche aufgebrachte Menschen vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen. Schon bald fliegen die ersten Steine Richtung ZAst und das angrenzende Wohnheim. Dort leben ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen und ihre Familien. Dies alles geschieht, obwohl Polizeikräfte anwesend sind. Als es dunkel wird, eskaliert die Situation vollends.

Es kommt zu Kämpfen zwischen Randalierenden und der Polizei, die sich führungslos und in erschreckender Unterzahl wiederfinden. Viele Einsatzkräfte werden verletzt. Kurz nach Mitternacht kommen zwar zwei Wasserwerfer aus Schwerin, falsch bedient bleiben sie aber wirkungslos. Die Krawalle gehen bis in die frühen Morgenstunden weiter, zahlreiche Autos brennen.

Ein Volksfest des Hasses

Am Mittag des folgenden Tages versammeln sich wieder Hunderte, zunehmend reisen auch Neonazis aus dem ganzen Land an. Sie kommen, um sich an den Ausschreitungen zu beteiligen und sie für die eigenen politischen Zwecke zu nutzen. Sie bauen etwa Imbissstände auf, um die Randalierenden mit Getränken und Essen zu versorgen.

Die Rostocker Polizei erhält zwar Verstärkung vom Bundesgrenzschutz, doch sehen sich die Ordnungskräfte einer immer stärker anwachsenden und gewalttätiger werdenden Menge an Randalierenden gegenüber, die zusätzlich von den Zuschauenden gedeckt werden, sobald sie sich in deren Reihen zurückziehen. Ununterbrochen werden Nazi-Parolen gebrüllt und rassistische Gesänge angestimmt.

Das Versagen des Staates in Rostock-Lichtenhagen

Am 24. August, dem dritten Tag der Ausschreitungen, fällt angesichts der dramatischen Lage endlich die Entscheidung, die Aufnahmestelle zu räumen. Die Asylsuchenden werden im Laufe des Tages in Sicherheit gebracht – die Vertragsarbeiter*innen im Wohnheim daneben aber nicht. Gegen Abend versammeln sich wieder etwa 1.000 Randalierende vor dem Gebäude, mitnichten sind es nur Nazis. Etwa 2.000 weitere Zuschauer*innen stehend applaudierend daneben. Die Menge ignoriert Aufrufe der Polizei, sich unverzüglich aufzulösen. Bis 21:00 Uhr hat die aber tatsächlich die Situation noch einigermaßen unter Kontrolle.

Doch dann kommt der Befehl, sich zurückzuziehen, eine gravierende Fehlentscheidung. Die Wut der Randalierenden richtet sich nun nicht mehr gegen die Staatsmacht, sondern direkt gegen die Menschen im Wohnheim. Das Gebäude wird regelrecht belagert. Knapp Einhundert vietnamesische Bewohner*innen, etwa ein Dutzend Helfer*innen und ein Fernsehteam, das über die Ereignisse aus Sicht der Angegriffenen berichten wollte, sind im Haus eingeschlossen.

Rostock-Lichtenhagen brennt

Nun fliegen Molotowcocktails, an immer mehr Stellen am und im Gebäude brechen Brände aus. Die Feuerwehr wird stundenlang von der Menge abgehalten, zum Gebäude vorzudringen und die Feuer zu löschen. Einige Randalierende dringen schließlich selbst ins Gebäude ein, wüten in den unteren Stockwerken. Die Eingeschlossenen fliehen Stock für Stock nach oben. Über das Dach des Nachbarhauses können sie sich schließlich retten. Dass es keine Toten gibt, ist schlicht ein Wunder.

Die Ausschreitungen gehen noch bis in die Nacht des 26. August weiter, dann zerstreuen sich die Randalierenden endgültig. Die Folgen? Die Hauptverantwortlichen unter den Brandstiftern kommen mit Bewährungsstrafen davon, der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern muss gehen. Doch Rostock-Lichtenhagen ist nicht das letzte Mal, dass es zu rassistisch motivierten Übergriffen in der Bundesrepublik kommt.

Und auch die Asyldebatte geht weiter. Am Ende wird das Grundrecht auf politisches Asyl durch den sogenannten Asylkompromiss von CDU/CSU und FDP gemeinsam mit der oppositionellen SPD im Dezember 1992 massiv eingeschränkt. So tritt etwa die Drittstaatenregelung in Kraft, die als Teil des EU-Rechts bis heute gilt. Es ist die Geschichte einer Demokratie, die nicht die Kraft und den Willen hat, diejenigen zu schützen, die ihren Schutz am meisten benötigen.

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