In den 1990ern kam dem deutsch-syrischen Politologen Bassam Tibi besagter Ausdruck erstmals über die Lippen. Wenig später, im Jahre 2000, wurde dieser nicht nur zum Wort des Jahres nominiert, sondern gleichzeitig auch zum Unwort des Jahres ernannt. Seit jeher ist der Begriff der deutschen LEITKULTUR schwer zu begreifen.

„Kultur“ – Was ist das eigentlich genau?

Um eine bestimmte KULTUR spezifizieren zu können, müssen wir zuallererst drei Fragen beantworten: Wer, wann und wo? 

Wir suchen also eine klar definierte Gruppierung, innerhalb eines eingegrenzten Raumes, zu einer festgelegten Zeit.

Die deutsche KULTUR umfasst demzufolge den kulturellen Querschnitt aller Menschen, die ihren derzeitigen Wohnsitz in Deutschland haben. Unabhängig vom Geburtsland oder ihrer Staatsbürgerschaft. Unbeeinflusst vom Aussehen, Alter oder dem sozialen Status dieser Personen: Wer in Deutschland lebt, prägt das deutsche Leben und somit auch die deutsche KULTUR.

Zur dieser KULTUR zählen in erster Linie die Werte und Normen, an denen wir uns orientieren. Dazu kommt die Art und Weise, wie wir uns kleiden und miteinander sprechen. Auch, wie wir uns im öffentlichen und privaten Raum zeigen oder verhalten. Was gilt als höflich, was als selbstverständlich? Was wird wiederum als absolut unangemessen angesehen? Sich begrüßen und verabschieden, miteinander flirten und Scherze machen – als integriertes Mitglied einer Gesellschaft erlernen wir ein intuitives Feingefühl für das kulturelle Wirken in unserer Umwelt.

Neben Kunst und Musik, sowie dem, was auf unseren Tellern landet, gehört dazu auch das, woran wir glauben. Religionen bilden häufig nicht nur das Grundgerüst eines Weltbildes. Sie vermitteln auch zahlreiche Traditionen und Bräuche, nachdem sich ihre Gläubigen richten. Seien es Feiertage, Geschlechterrollen, Familienstrukturen, die Erziehung oder die Auslebung der eigenen Sexualität.

Die KULTUR charakterisiert also, kurz und knapp, wer wir als Gesellschaft sind. Der Begriff der LEITKULTUR stellt hingegen eher die Frage in den Raum, wer wir als Gemeinschaft sein wollen. Es geht also um unsere kollektive Identität. Um einen übergeordneten Leitfaden für unser gesellschaftliches Miteinander.

Wer wollen wir sein?

Eine Frage, die viele Menschen erstmal stutzen lässt, wenn sie auf Deutschland blicken. Ideen für eine LEITKULTUR gibt es viele. Meinungen ebenso. Zwischen Themen wie Integration, Migration und Multikulturalismus regt der Begriff regelmäßig zu kontroversen Debatten an.

Vom Ursprung des Wortes LEITKULTUR

Als Bassam Tibi den Ausdruck 1998 erstmals in den öffentlichen Diskurs einbrachte, war zu diesem Zeitpunkt noch von einer europäischen LEITKULTUR für Deutschland die Rede. In den späten 90ern nahm der Anteil islamisch-gläubiger Zugewanderter im Lande deutlich zu. Die Folge: unterschiedliche KULTUREN und Wertegemeinschaften trafen aufeinander. Die Begegnung waren nicht immer konfliktfrei.

Tibi sah dabei das Problem, dass die deutsche Identität hierzulande primär durch Ethnizität definiert sei und zu oft mit religiösen Normen unterlegt werde. Keine Chance also für Menschen mit Migrationshintergrund, ein Teil der deutschen Identität zu werden. An dieser Stelle brachte Tibi seine Idee des Integrationskonzeptes der europäischen LEITKULTUR ins Spiel. Er verstand sie, so wörtlich, als eine „säkulare wertebezogene Hausordnung“.

Für ihn standen dabei demokratische Werte, wie Pluralismus, Toleranz und eine strikte Trennung zwischen Staat und Religionen im Vordergrund. Sein Motiv war es, kulturelle Begegnungen friedvoller zu gestalten, um eine geregelte Vielfalt daraus entspringen zu lassen.

Gleiches Wort – neue Bedeutung

Im Jahre 2000 griff Friedrich Merz, damals Fraktionsvorsitzender der CDU, besagten Begriff wieder auf. Sein Motiv war in diesem Fall jedoch ein völlig anderes. So sprach er explizit von einer deutschen LEITKULTUR, die als Pflichtenkatalog für Eingewanderte fungieren sollte: Wieder mehr nationale Einheit schaffen und den Integrationsprozess in verbindlich-festgeschriebene Richtungen lenken. Der kulturelle Leitfaden wurde dafür immer konkreter. Anpassung wurde gefordert, anstatt kulturelle Vielfalt zu fördern.

In der Folge gab es in Deutschland vermehrt Proteste gegen jene verbindlich-festgeschriebene Form der LEITKULTUR, die von den Protestierenden zur LEIDKULTUR umbeannt wurde.

Die Debatte um die LEITKULTUR reißt nicht ab

2017 leitete der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière eine erneute große LEITKULTURENDEBATTE ein. Dafür legte er insgesamt zehn Grundsätze vor, welche teils massive Kritik ernteten.

Heute wird der Ausdruck zumeist als ein Gegenbegriff zum Multikulturalismus verstanden. Häufig als Abgrenzungsversuch zum Islam, als fremdenfeindlich oder als konservativ-prägend.  

Die Parteien CDU, CSU und AfD definieren in ihren Parteiprogrammen eine deutsche LEITKULTUR in auf unterschiedliche Weise.

Eine allgemeingültige Definition des Begriffs bleibt damit also weiterhin kaum greifbar.

Weitere Quelle: Alltagsrassismus – Feindschaft gegen „Fremde“ und „Andere“, S. 111-114 (Eine Lektüre von Wolfgang Benz)

Über den Autor

Marie M.

ist eine angehende Psycholgie-Studentin aus Norddeutschland und im Rat der Stiftung "Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung" aktiv.

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