In den vorherigen fünf Beiträgen der Reihe „Musik in der Migrationsgesellschaft“ haben wir uns verschiedene Epochen und Strömungen der deutschen Musikgeschichte angeschaut. Das Ergebnis: Ohne Migration wäre die deutsche Musiklandschaft so wie sie war und ist nicht vorstellbar. In unserem letzten Musik-Artikel wenden wir uns einem der aktuell erfolgreichsten deutschen Genre zu: dem Hip Hop. Zunächst lohnt sich aber ein Blick auf die US-amerikanischen Ursprünge der Hip Hop-Kultur.

Die Partymusik aus der Bronx

Hip Hop entstand ab Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre in der Bronx. In dem New Yorker Viertel wohnen nicht nur die ärmsten Bürger:innen der Stadt, auch der Anteil an Afroamerikaner:innen und anderen nicht-weißen Menschen ist hier besonders hoch. Isoliert von den reicheren, hauptsächlich weißen Bewohner:innen anderer Stadtteile, entstehen in der Bronx verschiedene Subkulturen, unter anderem der Hip Hop. Ihren Ursprung hat die von rhythmischen Beats und Raptexten getragene Musik in der Discomusik, die mit verschiedenen musikalischen Einflüssen und elektronischen Sounds gemixt wird. Zunächst galt sie als Partymusik junger Afroamerikaner:innen. Gemeinsam mit Phänomenen wie Graffiti und Breakdance stellt Hip Hop als Bewegung aber auch ein großes Identitätsangebot dar.

Hip Hop zwischen Aufstieg und Protest

Ende der 1970er mischten sich in die Raptexte vereinzelt gesellschaftskritische Inhalte über die Armut in der Bronx, aber auch über rassistische Alltagserfahrungen. Beispielsweise endet das Musikvideo von „The Message“ (1982) der Gruppe Grandmaster Flash & The Furious Five mit der scheinbar unbegründeten Festnahme von Schwarzen Jugendlichen.

Im Laufe der 1980er Jahre klang Hip Hop-Musik zunehmend ernster, aggressiver. Sogenannte Rapbattles etablierten sich, in denen – zunächst vor allem männliche – Rapper gegeneinander antreten und sich in Disstracks Beleidigungen entgegenschleudern. Außerdem prahlen die Rapper mit ihren eigenen Aufstiegsgeschichten, ihrem Besitz, Potenz und vielem mehr. Aber auch die Gesellschaftskritik, kombiniert mit harten Beats, wurde energischer vorgetragen. In dieser Zeit entwickelte sich Hip Hop schließlich von einem afroamerikanischen Subgenre hin zu einem wichtigen Teil des gesamtamerikanischen Mainstreams – und darüber hinaus.

Diversifizierung und Verbreitung

1990 bis Mitte der 1990er Jahre erreichte das Hip Hop-Genre seinen Höhepunkt. Nicht nur innerhalb der USA, sondern auf der ganzen Welt wurde mittlerweile Hip gehört, gespielt und selbst produziert. Auch in Deutschland. Dabei konnte man schon lange nicht mehr nur von dem einen Hip Hop Genre sprechen. Neben dem klassischen Oldschool-Hip Hop, der zum entspannten Kopfnicken einlädt und Strömungen mit ungleich aggressiverem Rapstil, gibt es weichere Hip Hop-Subgenres, die stark durch Pop-Musik beeinflusst sind. Mit Autotune und tiefem Bass entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten vor allem der „Trap“-Hip Hop zu einer dominanten Strömung innerhalb des Hip Hops.

Dabei definieren sich die Subgenres innerhalb der Hip Hop-Kultur nicht nur über musikalische Unterschiede. Auch inhaltlich gibt es inzwischen eine große Bandbreite an Themen. So handelt beispielsweise Gangstarap vorrangig von der Straße, Kriminalität und Armut, d.h. von der Lebensrealität sozial abgedrängter Bevölkerungsgruppen. Daneben dreht seit seiner Entstehung in den 1970er Jahren der Conscious Rap – Hip Hop mit politischen Texten – immer wieder seine Runden.

Rap gegen Rassismus

Politischer Rap in Deutschland drehte sich seit den 1980ern unter anderem um Fremdenhass. So gab es innerhalb des Genres auch zahlreiche Reaktionen auf die rassistischen Anschläge in den 1990er Jahren. Vor allem im Hip Hop haben bis heute viele Musiker:innen migrantische Wurzeln. Damit waren sie persönlich von der rassistischen Welle im wiedervereinigten Deutschland betroffen.

Gemeinsam mit wenigen weißen Bands wie den Goldenen Zitronen protestierten Schwarze deutsche Rapper:innen laut mit ihren Texten gegen das Versagen der Justiz, die stille Akzeptanz vieler deutscher Zeitzeug:innen und die alltägliche Ausgrenzung migrantisch gelesener Menschen in Deutschland. Ein bekanntes Beispiel für musikalischen Protest ist der Track „Fremd im eigenen Land“ der Heidelberger Gruppe Advanced Chemistry aus dem Jahr 1992. Darin berichten die deutschen Rapper mit Migrationsgeschichte von ihren eigenen rassistischen Alltagserfahrungen, der permanenten Nicht-Anerkennung deutsch zu sein sowie der reellen Gefahr massiver körperlicher Gewalt.

Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf

Doch keiner fragt danach, wenn ich in die falsche Straße lauf‘

Pogrome entsteh’n, Polizei steht daneben

Ein deutscher Staatsbürger fürchtet um sein Leben

In der Fernsehsendung die Wiedervereinigung

Anfangs hab‘ ich mich gefreut, doch schnell hab‘ ich’s bereut

Denn noch nie seit ich denken kann, war’s so schlimm wie heut

Textauszug aus „Fremd im eigenen Land“ von Advanced Chemistry, 1992.

Verbunden ist der Protest der Gruppe mit einer Ankündigung: „wenn es drauf ankommt kämpfe ich Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Eine noch radikalere Kampfansage machte der kurzzeitige Zusammenschluss Brothers Keepers, bestehend aus unterschiedlichen Schwarzen deutschen Rappern im Jahr 2001.

Mit dem Song „Letzte Warnung“ reagierte das eigens hierzu entstandene Kollektiv auf die Ermordung von Alberto Adriano im Juni 2000. Neonazis hatten den 39-jährigen Familienvater und Fleischer aus Mosambik nachts im Dessauer Stadtpark zusammengeschlagen. Die Ermordung erschütterte die deutsche Öffentlichkeit schwer und zeigte weithin, dass die rassistische Gefahr der 1990er Jahre immer noch nicht gebannt war. Das Vertrauen in den Rechtsstaat Deutschland hatte vor allem bei nicht-weißen Deutschen massiv Schaden genommen. Viele glaubten nur noch an Selbstjustiz als letzten Ausweg. Ihrer maßlosen Wut und Enttäuschung machten Rapper wie die Brothers Keepers dementsprechend durch Raptexte mit Gewaltfantasien gegen Neonazis Luft.

Kommerzialisierung und Entpolitisierung?

Inwiefern der musikalische Protest dem reellen Rassismusproblem Deutschlands etwas entgegensetzen konnte, sei zunächst dahingestellt. Sicher prägten die Texte allerdings kollektive Selbstbilder migrantischer oder migrantisch gelesener Jugendlicher in Deutschland. Neben den politischen Texten setzten sich im Laufe der 1990er andere Inhalte im deutschen Hip Hop durch. Der Gangsta-Rap, aber auch „Spaß-Rap“ von (oftmals weißen) Gruppen wie Den Fantastischen Vier etablierte sich. Vergleichbar zu der Entwicklung in den USA lies sich in Deutschland im Laufe der 200er Jahre schließlich eine fortschreitende Kommerzialisierung des Genres beobachten.

Mit der Kommerzialisierung ging in vielen Fällen auch eine Entpolitisierung einher. Der Conscious Rap rückte weiter in den Hintergrund. Neben Themen wie Liebe oder Sex und persönlichen Fehden zwischen Rapper:innen, konzentrieren sich Texte bis heute oft auf den sozialen Aufstieg der jeweiligen Rapper:innen. Nicht zu vergessen ist dabei, dass weiterhin viele Hip Hop-Musiker:innen Kinder und Enkelkinder von Gastarbeiter:innen sind und/oder soziale Ausgrenzung aufgrund ihrer Abstammung erfahren mussten. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch den persönlichen Aufstiegsgeschichten eine gesellschaftliche Funktion zuschreiben: eine Art Empowerment innerhalb der migrantisch geprägten Hip Hop-Kultur.

Hip Hop in der Migrationsgesellschaft – heute

Im Allgemeinen fand im Hip Hop der 2000er Jahre auch in Deutschland eine Ausdifferenzierung des Genre statt. Zwar dominieren zeitweise einzelne Richtungen, dennoch sind aktuell beinah alle Subströme des Hip Hop in Deutschland vertreten. Plattformen wie YouTube, Social Media oder Soundcloud ermöglichen es seit den 2010er Jahren unbekannten Newcomer:innen ihre Tracks einfach zu veröffentlichen. Durch den großen Anteil deutscher Rapper:innen migrantischer Abstammung, wird auch die Identität als ausländisch wahrgenommene:r Deutsche:r, das Leben mit und zwischen zwei Kulturen immer wieder thematisiert.

Ein Beispiel hierfür sind die Inhalte des Kölner Rappers Eko Fresh. Nach „Der Gastarbeiter“ (2012) über die Geschichte seiner Familie und „Quotentürke“ (2013) erschien 2018 der Song „Aber“. In dem Musikvideo sitzen sich ein weißer Deutscher und ein selbst erklärter Türke, der in Deutschland lebt, gegenüber. Beide werfen sich gegenseitig Vorurteile an den Kopf. Die vorgebrachten Aussagen zeigen die verhärteten Fronten zwischen vielen weißen und ausländisch gelesenen Bürger:innen auf. In seiner letzten Strophe schließt Eko Fresh aber mit der hoffnungsvollen Aussicht, dass wir diese Grenzen gemeinsam überbrücken können.

Die Lage macht mich stutzig, wollt’s nicht sagen, doch jetzt muss ich
Auf einmal ist der Quotentürke gar nicht mehr so lustig
Als gäb‘ es nur die Wahl zwischen Erdoğan und Böhmermann
Nur die Wahl zwischen Bertelsmann und Dönermann
Als gäb‘ es nur den Wahlbereich zwischen Schwarz und Weiß
Gutmensch oder Arschloch sein, Antifa und Nazischwein
Rechtspopulismus oder „Angela, jetzt lass sie rein“
Zwischen Diktatur oder Anhänger des Staatsstreichs

Meine Ansicht, bro, ob Religion, ob Tradition
Zusammen in ’nem Land zu wohn’n, ist schwer, aber ihr macht das schon

Textauszug aus „Aber“ von Eko Fresh (2018)
Titelbild: Graffitis sind neben der Musik ein wichtiger Bestandteil der weltweiten Hip Hop-Kultur. Das Foto zeigt eine Ansammlung sogenannter Style writings in Berlin - dem Zentrum der deutschen Hip Hop-Kultur. Foto: Wikimedia, Nicor 2006, CC BY-SA 2.5. 

Quellen:

50 Jahre Hiphop: Die wichtigsten Momente des Genres | Hip Hop.de

10 der wichtigsten Subgenres aus 50 Jahren Hiphop | Hip Hop.de

We Wear the Crown – 40 Jahre Rap aus Deutschland – Was ist Rap? – Die ganze Doku | ARTE

Deutscher Rap – von den Ursprüngen bis heute (medienradar.de)

‘Kollegah the Boss’: A case study of persona, types of capital, and virtuosity in German gangsta rap | Popular Music | Cambridge Core

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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