Heute vor 30 Jahren stand der sogenannte Asylkompromiss zur Abstimmung im Bundestag, der damals noch in Bonn tagte.

Ausnahmezustand

In der Stadt herrschte der Ausnahmezustand. Um die Abstimmung zu verhindern, besetzten Demonstrant*innen die Bannmeile und versperrten dadurch den Abgeordneten den Weg zum Tagungsort. Ein Großaufgebot der Polizei war im Dauereinsatz, Abgeordnete wurden auf Schiffen über den Rhein gebracht, andere mit Hubschraubern aus der Luft eingeflogen oder mit Polizeischutz durch die Sperren geleitet.

Die Abstimmung

Schließlich konnte nach einer stundenlangen Debatte die Abstimmung stattfinden und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth verkündete das Ergebnis: 521 Ja-Stimmen und 132 Nein-Stimmen bei einer Enthaltung. Aber über was wurde da genau abgestimmt und wieso war die Aufregung so groß? Gehen wir also zurück in die frühen 1990er, oder nein, noch besser zurück ins Jahr 1949, der Geburtsstunde des Grundgesetzes

Artikel 16 Grundgesetz

Heute vor drei Tagen und 74 Jahren wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Darin enthalten ist auch der Artikel 16, der etwas zur deutschen Staatsangehörigkeit sagt und dann steht da im zweiten Absatz ziemlich unvermittelt:

Politisch Verfolgte genießen Asylrecht

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 16

Im Grundgesetz nicht ohne Grund

Der Satz kam nicht einfach so ins Grundgesetz, sondern war eine direkte Konsequenz aus der Erfahrung der NS-Diktatur und den von ihr verübten Menschheitsverbrechen. Massenhaft flohen damals Verfolgte aus Deutschland und Europa vor der verbrecherischen NS-Vernichtungspolitik – und scheiterten oft an geschlossenen Grenzen. Deshalb orientierten sich die Väter und sehr wenigen Mütter des Grundgesetzes an der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 und schrieben den Deutschen ein einklagbares Recht auf Asyl in die Verfassung. Ohne wenn und aber. Das „wenn und aber“ kam dann am 26. Mai 1993. Aber warum?

In Anspruch genommen

Dies hatte mit der besonderen Situation in den frühen 1990er Jahren zu tun. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Bürgerkriege im zerfallenden Jugoslawien, im Kongo und in Burundi lösten große Fluchtbewegungen aus. Menschen auf der Flucht kamen nach Deutschland und machten vom Recht auf Asyl viel stärker Gebrauch als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Von 1991 bis 1992 verdoppelte sich die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland auf 440.000. Die Kommunen waren überfordert und übten Druck auf die Politik aus, etwas zu ändern.

Schlagworte und Stimmungsmache

In Medien und an Stammtischen wurde diese Entwicklung heftig diskutiert. Abwertende Schlagworte bestimmten die Debatte. Geflüchtete wurden als „Scheinasylanten“ und „Asylbetrüger“ diffamiert, die nichts anderes im Schilde führen würden, als auf Kosten des deutschen Staates zu leben. Diese rassistischen Argumentationsmuster wurden nicht nur von Rechtsextremen, sondern teilweise auch von demokratischen Parteien und Medien propagiert.

Rassistische Gewalt

Rassistische Anschläge und Gewalttaten nahmen Anfang der 1990er Jahre im gesamten Bundesgebiet rasant zu. In Hoyerswerda kam es bereits im September 1991 zu pogromartigen Überfällen auf ein Wohnheim für ehemalige Vertragsarbeiter aus Mosambik und Vietnam und auf eine Unterkunft für Asylbewerber*innen. Im Oktober 1991 wurden zwei libanesische Mädchen bei einem Brandanschlag auf ein Wohnheim im nordrheinwestfälischen Hünxe schwer verletzt. Die Liste rechtsextremistischer und rassistischer Gewalttaten Anfang der 1990er Jahre ließe sich noch lange fortsetzen. Die Amadeo-Antonio-Stiftung listet in ihrer Chronik „Todesopfer rechter Gewalt“ im Jahr 1992 27 Fälle auf. Allein bei dem rassistischen und rechtsextremistischen Brandanschlag in Mölln im November 1992 sterben zwei Frauen und ein Kind.

Fanal am „Sonnenblumenhaus“

Ein besonderes Fanal war das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Hunderte Rechtsextreme und bis zu 3.000 Schaulustige belagerten vier Tage lang das „Sonnenblumenhaus„, ein Plattenbau, der als Unterkunft für Asylsuchende und ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen dient. Die Polizei versuchte zunächst einzugreifen und die Rechtsextremen zu vertreiben, zog sich dann aber am Abend des vierten Tages zurück. Der Mob warf Brandsätze in das Gebäude, die Menge grölte und verweigerte der Feuerwehr die Zufahrt zum Gebäude. Ein Wunder, dass niemand starb, aber die Bilder vom brennenden „Sonnenblumenhaus“ gehen um die Welt. Und wirken nach.

Zwiespältige Reaktionen

Auf die rassistischen Gewalttaten reagierten Gesellschaft, Politik und Medien auf der einen Seite mit Abscheu und Fassungslosigkeit. Auf der anderen Seite wurde aber immer stärker die bisherige Asylpolitik in Frage gestellt und die hohe Zahl der Asylsuchenden direkt mit gewalttätigen Exzessen wie in Rostock-Lichtenhagen in Verbindung gebracht, z.B. vom damaligen Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns.

SPD unter Druck

Das Ziel der CDU/CSU war es schon länger, die Zahl der Asylsuchenden drastisch zu senken, um den angeblichen „Asylmissbrauch“, den man Geflüchteten oft pauschal unterstellte, zu verhindern. Dazu aber musste man den Artikel 16 des Grundgesetzes ändern und dazu war eine Zweidrittelmehrheit notwendig, die allein mit den Stimmen der Regierungskoalition aus Union und FDP nicht zu schaffen war. Der Druck auf die SPD wuchs. Diese willigte schließlich in weiten Teilen ein und war bereit, den sogenannten „Asylkompromiss“ vom 26. Mai 1993 mitzutragen.

Folgenschwere Ergänzungen

Wie aber sah dieser „Kompromiss“ aus? Der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ blieb erhalten, aber darauf folgten Ergänzungen, die es in sich hatten.

„Drittstaatenregelung“

Eine davon war die Ergänzung, dass alle Geflüchteten, die über einen EU-Staat oder ein anderes Nachbarland Deutschlands einreisen, keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland haben und sofort abgewiesen werden können. Diese „Drittstaatenregelung“ ließ für Geflüchtete faktisch nur noch den direkten Weg mit dem Flugzeug übrig.

„Sichere Herkunftsstaaten“

Und auch der Luftweg konnte durch eine weitere Ergänzung nur noch in seltenen Ausnahmefällen zum erfolgreichen Asylantrag führen. Schuld daran war die Definition von „sicheren Herkunftsstaaten“, in denen angeblich keine Verfolgung drohte.

Kritik

Heftige Kritik gab es damals von Bündnis 90/ Die Grünen und der PDS, vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR, dem Zentralrat der Juden und der Organisation „Pro Asyl“. Auch einzelne SPD-Mitglieder protestierten dagegen, am prominentesten der Schriftsteller Günter Grass, der sein Parteibuch zurückgab.

Rückgang der Asylsuchenden, nicht der Gewalt

Einen Effekt hatte die Neuregelung auf die Zahl der in Deutschland Asylsuchenden, die sich schon im Jahr 1993 stark reduzierte. Die rassistische Gewalt aber blieb. Nur drei Tage nach der Abstimmung im Bundestag, am 29. Mai 1993, starben in Solingen fünf Menschen mit türkischen Wurzeln beim Brandanschlag auf ein Wohnhaus. Und für das Jahr 1994 zählt die Amadeo-Antonio-Stiftung neun „Opfer rechter Gewalt“.

Folgen in Europa

Die Änderung des Asylrechts in Deutschland durch den „Asylkompromiss“ führte dazu, dass die Geflüchteten nun zwar nicht mehr in großer Zahl nach Deutschland kamen, aber dafür in anderen EU-Ländern strandeten, die ihrerseits ähnliche Regelungen wie Deutschland trafen. Mit der „Dublin-Regelung“, die 1997 in Kraft trat, drängte die EU die Asylsuchenden endgültig an ihre Außengrenzen ab, denn von da an müssen Geflüchtete in dem Land Asyl beantragen, in dem sie die EU betreten haben.

Aktuelle Debatte

Der „Asylkompromiss“ ist 30 Jahre her, aber die damalige Debatte scheint aktueller denn je, denn gerade wurden auf dem Flüchtlingsgipfel wieder mehr Grenzkontrollen und mehr Abschiebungen beschlossen. Constantin Hruschka, Experte für europäisches und internationales Migrationsrecht, sagte vor zwei Tagen in einem Interview:

Die Flüchtlings- und Migrationspolitik folgt auch 30 Jahre nach dem „Asylkompromiss“ weiterhin der Idee, dass verfahrensrechtliche Anpassungen die materielle Prüfung des Schutzbedarfs ersetzen oder überflüssig machen könnten. Das ist falsch, teuer und frustrierend für alle Beteiligten.

Tagesspiegel, 24.05.2023

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Über den Autor

Dennis R.

Dennis R. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

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