Der Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst) veranstaltete 2023 drei postmigrantische Erinnerungsreisen. Diese richteten sich speziell an Jugendliche mit Migrationsgeschichte und junge BI_POC in Deutschland. Am 17. Juni besuchte die Reisegruppe Eisenach in Thüringen. Wie mehrere Orte Ostdeutschlands war die Stadt am 2. und 3. Oktober 1990 Schauplatz rassistisch motivierter Ausschreitungen. In Eisenach richteten sich die Angriffe gegen die mosambikischen Vertragsarbeiter:innen des Automobilwerks Eisenach (AWE). Am Tag vor der Wiedervereinigung wurden sie in ihrer Unterkunft von einer rechtsextremistischen Menschenmenge und fremdenfeindlichen Anwohner:innen bedroht und festgehalten. Der Exkursions-Teilnehmer Oumar Diallo hat in einem Tagebucheintrag seine persönlichen Gedanken auf der Erinnerungsreise nach Eisenach gesammelt:


Unterwegs mit DaMOst

„An einem Sonntagmorgen wachte ich aufgeregt auf und habe mich bei dem Gedanken, dass heute die Erinnerungsreise stattfinden würde, sehr gefreut. Gegen 9:00 Uhr machte ich mich auf den Weg zum Treffpunkt und traf auf ein paar migrantische Teenager*innen. Ich war der einzige Schwarze Mensch und ein paar Jahre älter als die restliche Gruppe.

Ich lernte die Gruppe kennen und wir stiegen in den Bus zur postmigrantischen Erinnerungsreise in Eisenach. In der Gruppe sprachen wir über Fußball, Schule und vieles andere.

Am Zielort, dem NaturFreundeHaus in Eisenach angekommen, machte ich mir ein Bild von der Umgebung und traf auf einige der Organisator*innen. Sie luden uns zum Frühstück ein. Ein paar Teilnehmer*innen verspäteten sich aufgrund der Verkehrslage.

In meiner Aufregung nahm ich nur eine Tasse Kaffee und einen Apfel mit. Dann lernte ich die anderen Leute vor Ort kennen und versuchte, langsam anzukommen. Nebenan konnte ich Gebäude im Stile des sozialistischen Klassizismus erkennen, dem für die Deutsche Demokratische Republik (DDR) sehr typischen Baustil. Ich lernte die Menschen am Veranstaltungsort besser kennen. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich die Menschen, die ich bei Veranstaltungen von DaMOst e.V. und den Naturfreunden Thüringen e.V. treffe, ansprechen und eine angenehme Kommunikation erwarten kann. Die Menschen sind aus demselben Grund dort wie ich. Ich kann so sein, wie ich bin.

Eine erste Begegnung

Links von mir im Raum sah ich einen Schwarzen Mann mit sommerlicher Kleidung und einem sehr freundlichen Gesichtsausdruck. Ich vermutete direkt, dass er einer der Zeitzeugen sein musste, die wir an dem Tag kennenlernen würden. Also näherte ich mich ihm, um ihn kennenzulernen. Ich fühlte mich herzlich willkommen. Wir unterhielten uns und er begann direkt, mir Fragen zu stellen, die unser Kennenlernen erleichterten. Fragen wie, wie ich heiße und was ich machen würde, ob ich hier aufgewachsen und wie lange ich schon hier sei oder aus welchem Teil Afrikas ich käme. Ich fragte ihn ähnliche Fragen und obwohl ich fast all seine Antworten schon ahnte, fand ich es trotzdem interessant, sie nochmal von ihm zu hören.

Nach dem kurzen Gespräch fing er an, mir von seinen Erlebnissen in Eisenach zu erzählen. Ich hatte ähnliche Geschichten schon einmal von anderen gehört. Der Mann hatte einen sehr aufgewühlten und verzweifelten Gesichtsausdruck während er erzählte. Ich fragte ihn direkt, was ihn diese Erlebnisse und Erinnerungen überleben lässt? Er antwortete mir, dass er an Gott glaube. Alles, was ihm aufgebürdet wurde, akzeptiere er und würde es mit Gott teilen; er sei der oberste Richter. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich verstehe und respektiere seinen Glauben, musste aber auch daran denken, dass es auch der Glaube ist, dessen Instrumentalisierung eine zentrale Rolle im Kolonialismus gespielt hat.  Ich wusste nicht, was ich fühlen oder denken sollte.

Das AWE und seine Vertragsarbeiter*innen

In der Zwischenzeit war die restliche Gruppe am NaturFreundeHaus angekommen. Wir unterbrachen also unsere Diskussion, um die neu angekommenen Personen – darunter ein paar mir bekannte Gesichter – zu begrüßen. Ich hatte die Möglichkeit, die beiden Zeitzeugen und die Wissenschaftlerin – Frau Dr. des. Jessica Lindner-Elsner, die ihre Dissertation über „Arbeitsverhältnisse und soziale Ungleichheiten im Automobilbau Ostdeutschlands. Das Automobilwerk-Eisenach (AWE) seit den 1970er Jahren“ schrieb –kennenzulernen. Der Mann und ich setzten unser Gespräch erst später fort.

Nachdem sich alle Personen auf der Terrasse des Hauses zusammengefunden und begrüßt hatten, begann die Veranstaltung offiziell. Dazu gehörte zuerst ein Rundgang durch Eisenach Nord, bei dem wir uns gemeinsam mit den Zeitzeugen und der Wissenschaftlerin die Orte der pogromartigen Angriffe vom 02. und 03. Oktober 1990 gegen die damals dort lebenden Vertragsarbeiter*innen anschauten.

Oktober 1990 bis zur letzten Tat des NSU

Der Rundgang begann in einem Restaurant, in dessen Gebäude früher die Sparkasse war, die der NSU 2011 überfallen hatte. Die Wissenschaftlerin erzählte von den Hintergründen dieses Ortes. Es waren für mich so viele neue Informationen dabei, die mich überrascht haben, sodass es für mich nicht immer einfach war, ihren Erzählungen zu folgen und gleichzeitig das Gesagte zu verdauen. Wir besichtigten vier verschiedene Erinnerungsorte und an jedem Ort präsentierte uns Frau Lindner-Elsner die Ergebnisse ihrer Nachforschungen und die Zeitzeugen fügten jeweils ein paar Fakten hinzu und berichteten von den Erfahrungen, die sie an diesen Orten gemacht hatten.

Als die beiden anfingen zu erzählen, als sie berichteten, was sie dort im Oktober 1990 erlebt haben, wie sie sich tagelang ohne polizeiliche oder zivile Hilfe in unmittelbarer Gefahr fühlten oder als sie erklärten, wie sie untergebracht waren und dass sie allein für ein Bett das Dreifache einer vollen Miete bezahlen mussten, kamen mir die Tränen. Ich ging im Anschluss zu einer der beiden Personen und erfuhr noch mehr Details zu den Übergriffen, den rassistischen Beschimpfungen, körperlichen Angriffen, der Ausgrenzung am Arbeitsplatz und der Tatenlosigkeit des Staates. Die Zeitzeugen berichteten auch, dass es Menschen aus Guinea gab, die wegen der Diskriminierungen und Übergriffe in den Westen flohen, der mit Eisenach als Grenzstadt nicht weit weg war.

Rassismus im Sozialismus?

In diesem Moment, als die Zeitzeugen von ihren Erfahrungen in Eisenach und der DDR erzählten, fragte ich mich, ob die Taten und das Verhalten der DDR-Bürger*innen, von dem die beiden erzählten, etwas mit der sozialistischen Ideologie zu tun hatte. Der Ideologie, in der Menschen eigentlich vor Ausbeutung geschützt werden sollten, der, in der die Gleichheit der Menschen laut und deutlich propagiert wurde? Ich erinnerte mich in dem Moment an etwas, was ich von Che Guevara gelesen hatte, wo er sagte, dass sowohl „der Westen“ als auch die sozialistische UdSSR imperialistisch seien, weshalb er sich weigerte, sich im Kalten Krieg auf die Seite der UdSSR zu stellen.

Vertragsarbeiter*innen in der deutschen Erinnerungskultur

Nach dem Rundgang gingen wir wieder zum NaturFreundeHaus, um das Gesehene und Gehörte gemeinsam zu reflektieren und um uns weiter mit den Zeitzeugen und Frau Dr. Lindner-Elsner zu den damaligen Ereignissen und Lebensrealitäten von Migrant*innen in Eisenach auszutauschen. Die hier vorgestellten Forschungserkenntnisse waren manchmal so intensiv und einprägsam, dass ich mich von dieser Ungerechtigkeit selbst betroffen fühlte.

Ich bin sehr dankbar für das Engagement der Wissenschaftlerin, die sich die Zeit genommen hat, uns ihre Arbeit vorzustellen und überhaupt für ihre Tapferkeit bei der Aufarbeitung dieses Themas. Oft entsteht der Eindruck, es würde sich niemand für die Vertragsarbeiter*innen und ihre Geschichten interessieren oder gar eine Arbeit über sie recherchieren und verfassen. Und überhaupt: Wer hat das Durchhaltevermögen, diese Geschichten trotz aller Hürden und Schwierigkeiten bis zum Ende zu verfolgen. Ich war sehr angetan und positiv überrascht.

Vertragsarbeiter*innen nach dem Ende der DDR

Nachdem Frau Dr. Lindner-Elsner los musste, begann der Austausch mit den beiden Zeitzeugen, die noch mehr von ihren Erfahrungen berichteten. Laut ihrer Beschreibungen wurden sie damals sowohl von der mosambikanischen als auch von der deutschen Regierung betrogen. In Mosambik ließ man sie einen Vertrag unterschreiben, der falsche Versprechungen machte und durch den die Regierung Geld einnahm. In Deutschland hätte es ganz andere Verträge gegeben, die aber auch nicht durchgesetzt worden seien.

Es war alles sehr interessant und komplex, sodass sehr viele Fragen bei mir aufkamen, von denen ich auch einige stellen konnte. Zum Beispiel:  Wer war ihr damaliger Sprecher, an wen, wo und wie haben sie damals ihre Forderungen gestellt? Und wie ist das heute? Was hat sie persönlich dazu bewegt, in der DDR zu bleiben und nicht nach Mosambik zurückzukehren?  Sie sagten daraufhin, dass ihre Pässe gesperrt worden seien.  

Ich habe mich in dem Zuge gefragt, wie es möglich sein konnte, dass so ein System, dem diese Personen und so viele andere zum Opfer gefallen sind und von dem sie ausgebeutet wurden, überhaupt entstanden ist und wer und was es ausgelöst hat. Ich denke, diese Fragen wären leichter zu beantworten, wenn die Stadt Eisenach Interesse an einer Aufarbeitung zeigen und das Thema öffentlich behandeln würde, was, wie die Wissenschaftlerin betonte, aktuell nicht der Fall sei. Auch hier stelle ich mir die Frage: Warum?

Aufklärungsarbeit

Die beiden berichteten von ihrem Anliegen der Aufklärung der Geschichte und davon, dass sie in diesem Sinne eine Initiative gegründet haben und mit anderen Initiativen dieser Art in Kontakt stehen, was ich sehr schätze. Sie sagten uns auch, dass sie sich sehr auf uns, die neue Generation an jungen Leuten verlassen würden, um weiterhin Aufklärungsarbeit zu leisten, was ich mit meinem Aktivismus gerne tun werde.

Obwohl es schlimme Erfahrungen sind, die die Personen hier gemacht haben, bin ich auf eine gewisse Art sehr froh, dass sie (oder ihre Eltern und Großeltern) ihren Weg hierher gefunden haben und wir an diesem Tag mit unseren verschiedenen (post-)migrantischen Perspektiven zusammenkommen konnten. Ich habe in dem Moment gedacht, dass es trotz unserer Ungleichheit etwas Stärkeres gibt, das uns alle zusammenhält: die Liebe zwischen den Menschen. Davon bin ich überzeugt.

Gemeinsam mit Zeitzeug*innen und Wissenschaft

Am Abend war den meisten Teilnehmenden anzusehen, dass sie emotional sehr müde waren, was angesichts des Rundgangs und der intensiven Reflexion im Anschluss verständlich war. Was ich an diesem Tag am spannendsten fand, waren der Austausch mit den beiden Zeitzeugen und mit der Wissenschaftlerin, die ihre Forschungsergebnisse vorgestellt hat.“


Foto: Die Gruppe auf dem Nordplatz in Eisenach. Hier spielten sich die Angriffe am 2. und 3. Oktober 1990 gegen Vertragsarbeiter:innen aus Mosambik ab. Foto: DaMOst.