Der Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst) führte 2023 drei postmigrantische Erinnerungsreisen durch, eine davon nach Halle (Saale). In Halle setzten sich 17 teilnehmende Jugendliche mit dem antisemitischen, rassistischen und frauenfeindlichen Anschlag an Jom Kippur 5780 (9. Oktober 2019) auseinander. Sie besuchten sowohl den Tatort der Synagoge als auch das Projekt TEKİEZ, das am Ort des früheren Imbiss „Kiez-Döner“, der ebenfalls zum Tatort wurde, arbeitet. Die Teilnehmerin Kim-Anh Do Thi hat in einem Tagebucheintrag ihre Eindrücke aus Halle festgehalten:

„In Halle

Es ist der 9. Juli 2023, ein heißer Sonntag. Heute nehme ich an meiner zweiten Postmigrantischen Erinnerungsreise mit dem DaMOst e.V. teil. Diesmal ist der Ort des Gedenkens und Erinnerns Halle (Saale), Sachsen-Anhalt, der Stadt in der ich seit fast einem Jahr lebe und studiere. Mein Anfahrtsweg zu unserem ersten Treffpunkt ist sehr kurz, ich fahre mit dem Fahrrad hin.

Im TEKİEZ

Am TEKİEZ angekommen, werde ich bereits von bekannten Gesichtern empfangen und
betrete zum ersten Mal den Ort, an dem am 9. Oktober 2019 ein schreckliches Attentat verübt
wurde. Die zwei großen Schaufenster sind mit Postern verziert und drinnen scheint es auf den ersten Blick wie ein ganz normales Café mit Tresen und etlichen Sitzmöglichkeiten. Alles ist sehr hell und gemütlich eingerichtet, die Stimmung im Raum ist dynamisch und belebt. Ich komme mit anderen jungen Menschen ins Gespräch, die entweder in Halle, Leipzig oder Erfurt wohnen. Wir tauschen uns aus und knüpfen erste Kontakte. Nachdem alle Teilnehmenden erschienen sind, versammelten wir uns in dem hinteren Raum des Cafés, der über eine Treppe erreichbar war.

Ein „Schrein“

Dort ist mir zum ersten Mal der „Schrein“ mit den Porträtbildern der zwei verstorbenen Opfer des Halle-Attentats, Jana Lange und Kevin Schwarze aufgefallen, in der Mitte wurde eine brennende Kerze platziert. Jetzt fallen mir auch die anderen Bilder an der Wand auf. Später wurde uns erklärt, dass damit die tatkräftige Arbeit der „Soli-Gruppe Kiez-Döner“ festgehalten wird. Damit das Engagement der vielen Freiwilligen geehrt wird, die ermöglichten, dass dieser Ort trotz der schmerzhaften Erinnerungen wiederaufgebaut wurde. Im oberen Raum angekommen, gab es eine kreative Vorstellungsrunde und einen Überblick über den Tagesablauf.

Igor Matviyets erzählt

Kurz darauf traf Igor Matviyets ein, für viele von uns, die nicht gebürtig aus Halle kommen, ein unbekanntes Gesicht. Aber während unseres Spaziergangs in der Nähe des Paulusviertels erzählte uns Igor auch etwas zu seiner Biographie. In der Ukraine geboren, ist Igor mit seiner Familie 1999 als Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen und studierte hier in Halle Politikwissenschaften. Fortan ist er lokal politisch aktiv und engagiert, trat 2021 für die SPD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt an. Zudem ist er Mitglied der jüdischen Gemeinde, weshalb Igor sowohl die rechtsextremistischen als auch antisemitischen Stadtbilder Halles schildern konnte.

Hier wohnten NS-Größen

Die allerersten Stationen waren anliegende Wohnhäuser, in denen frühere NS-Funktionäre gelebt haben. Darunter beispielsweise der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, dieser organisierte die Wannseekonferenz, welche den Grundstein für die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa legte. Grundsätzlich existieren bis heute viele Straßen und Plätze in Deutschland, die nach Personen benannt sind, die dem Nationalsozialismus treu waren oder auch ganz allgemein diskriminierende und minderheitsverachtende Haltungen vertraten. Oftmals wird man darüber gar nicht aufgeklärt, obwohl der Gebrauch doch so alltäglich ist.

Ein Hausprojekt der „Identitären Bewegung“

Weiter ging es dann zum Steintorcampus der Martin-Luther-Universität Halle, neben dem noch bis Ende 2019 ein Hausprojekt der „Identitären Bewegung“ anzutreffen war. Knapp zwei Jahre sorgte die unausweichliche Präsenz dieser neurechten Bewegung dafür, dass der politische Diskurs in Halle aufgemischt und das Projekt schlussendlich nach Protest und Widerstand beendet wurde. Für mich war diese Taktik rechtsextremer Strukturen nicht neu, da vor allem in den ostdeutschen Bundesländern wie Brandenburg oder Sachsen-Anhalt ganze Dörfer aufgekauft werden. Zum einen, um sich die isolierten Räume zu schaffen, in denen sich rechte Gleichgesinnte austauschen können und zum anderen, um eine gesellschaftliche Akzeptanz dieses politischen Gedankenguts zu etablieren. Aus eigenem Interesse habe ich mich nach unserer Erinnerungsreise und während des Verfassens dieses Tagebuchs näher mit diesem Hausprojekt auseinandergesetzt. Sowohl der Standort neben dem Universitätscampus, als auch die Einschüchterungstaktiken, denen die Studierenden und alle anderen Personen ausgesetzt waren, die sich nicht von der „Identitären Bewegung“ unterkriegen lassen wollten, schockierten mich.

Anschlagsort Synagoge

Kurz darauf ging es für uns zur Synagoge, dem ersten Anschlagsort von 2019. Wir wurden im Vorhinein über den Polizeischutz informiert, dieser wurde jedoch erst nach dem Anschlag eingesetzt. Zuvor wurde diese Notwendigkeit insbesondere an den jüdischen Feiertagen oder Gottesdiensten von der Polizei Sachsen-Anhalt bagatellisiert. In vielen Großstädten ist die Postierung der Polizei vor einer Synagoge gängig. Zugleich aber auch eine ernüchternde Alltagsrealität für jüdische Gemeinden in Deutschland, wenn man bedenkt, dass beispielsweise katholische oder evangelische Kirchen diesen besonderen Schutz nicht benötigen. Dabei ist die Synagoge genauso eine bedeutende Institution im Judentum, in dem gebetet und gelehrt wird. Es ist daher für mich unverständlich, dass an einem Ort des Friedens und der Gemeinschaft, Angriffe geschehen, die von Hass und Gewalt geprägt sind.

Eine Tür

Die Überlebenden des Anschlags waren lediglich durch eine Tür vor dem Angreifer geschützt, der Waffen und Sprengsätze bei sich trug. Diese Tür steht bis heute noch vor der Synagoge als Gedenken an das Attentat und die überlebenden und verstorbenen Opfer. Erneut spiegelt sich damit ein Bildnis des Versagens wieder, das Versagen staatlicher Institutionen und der Mehrheitsgesellschaft.

Eine Gedenktafel mit Leerstellen

Daraufhin betrachteten wir gemeinsam die Gedenktafel, die an der Mauer angebracht ist, welche die Synagoge umgibt. Nach genauerer Analyse des Textes fiel auf, dass viele Aspekte nicht genau genug oder gar nicht erwähnt wurden. Beispielsweise wird nicht erläutert, um welchen Imbiss es sich handelt, der angegriffen wurde. Damit entfällt gleichzeitig die rassistische und ausländerfeindliche Einstellung des Attentäters, der sich erhoffte möglichst Menschen mit Migrationshintergrund im „Kiez-Döner“ anzutreffen. Zudem wird nicht wiedergegeben, dass der Täter ebenfalls eine frauenfeindliche Gesinnung verfolgte und führt dazu, dass viele der Überlebenden nicht sichtbar sind.

Wieder im TEKİEZ

Mit diesen Erkenntnissen und Eindrücken sind wir dann wieder zum TEKİEZ zurückgekehrt, in dem ein leckeres Mittagessen auf uns wartete, das von Alma zubereitet wurde. Nach dem wir uns die Bäuche mit Linsensuppe, selbstgemachtem Fladenbrot, Salat und leckeren Snacks vollgeschlagen haben, versammelten wir uns vor den Schaufenstern des TEKİEZ. Dort erzählte uns Alma mehr zur Geschichte des Ortes selbst. Einigen aus der Gruppe war der „Kiez-Döner“ von damals bekannt und sie äußerten ebenfalls, dass sich seitdem Vieles verändert hätte.

Erinnern und Verdrängen

Gegenüber vom Eingang wurde von der Stadt Halle genau die gleiche Gedenktafel in den Boden eingelassen, die auch an der Synagoge zu sehen war. Obwohl ich schon mehrmals daran vorbeigelaufen bin, ist mir die Gedenktafel nie aufgefallen, was in der Gruppe dann später auch kritisiert wurde. Das scheinbare Verdrängen von schrecklichen Ereignissen aus der Vergangenheit ist womöglich ein wunder Punkt in der deutschen Erinnerungskultur, die nur sehr schwach ausgeprägt ist. „Warum beispielsweise werden Stolpersteine im Boden und nicht an den besser sichtbaren Hauswänden angebracht?“, als uns Igor diese Frage stellte, wurde mir Vieles klarer. Es solle nicht jeden Tag daran erinnert werden, dass die deutsche Geschichte mit diesen unmenschlichen Gräueltaten assoziiert wird. Aber wozu führt uns diese Verdrängung?

Alltagsrassismus

Wenig später versammelten wir uns wieder im Café für den zweiten Teil des Tages. Diesmal mit einer größeren Gruppe, da Igor und später auch İsmet Tekin dazu gestoßen sind. Zu allererst wurden uns Zitate von Überlebendes des Anschlags überreicht, die wir in kleinen Gruppen anhand von mehreren Leitfragen analysierten. Im Austausch mit weiteren Teilnehmenden konnten wir auch unsere persönlichen Erfahrungen mit Alltagsrassismus und anderen Formen von Diskriminierung teilen, die ebenso aus einer Quelle der Intoleranz und des Hasses entspringen.

İsmet Tekin

Nachdem jede Gruppe ihre Auswertung zu den Zitaten vorstellte, lernten wir nun auch İsmet Tekin besser kennen. İsmet überlebte den Anschlag vom 09. Oktober 2019. Ihm und seinem Bruder Rıfat Tekin gehört das TEKİEZ (früher: Kiez-Döner) und sie kämpfen dafür, dass dieser Ort für alle zugänglich ist und für die Zukunft bewahrt wird. İsmet erzählte uns davon, dass sich sein Leben seit diesem einen Tag im Herbst 2019 für immer verändert hätte. Sei es der Kampf um Anerkennung und Sichtbarkeit durch die Politik, der kräftezerrend und ermüdend ist oder allein das Erlebte zu verarbeiten. Es braucht eine enorme Willensstärke sich jederzeit den Hindernissen zu stellen, die İsmet widerfahren sind und nicht aufzugeben, weil die Hoffnung auf etwas Besseres größer ist. Trotz allem steckt İsmet all seine Energie in diesen einzigartigen Ort, brachte uns mit seiner ehrlichen Meinung zum Lachen und schuf mit der Teilhabe vieler anderer freiwilliger Helferinnen einen Ort, an dem man sich sicher fühlen kann. Dieser Ort steht allen Menschen mit offenen Türen zur Verfügung, die sich nicht vor Einzigartigkeit scheuen, sondern vielmehr Toleranz, Respekt und Vielfalt in sich tragen. Der Austausch mit İsmet war sehr inspirierend und dafür meine größte Dankbarkeit, dass er uns gegenüber so ehrlich war.

Kraft schöpfen

Zusammenfassend konnte ich für mich persönlich neue Erkenntnisse sammeln, Kraft schöpfen und
Dankbarkeit für die geteilten Erlebnisse zeigen. Des Weiteren hat mir diese Reise gezeigt, dass
Erinnerungskultur von essenzieller Bedeutung ist, genauso wie die Auseinandersetzung mit
Geschehenem und aktuellen politischen Entwicklungen. Es war eine äußerst bereichernde Erfahrung, die ich so jedem jungen Menschen weiterempfehlen würde.


Titelbild: Die Gedenktafel erinnert an den antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019, bei dem zwei Menschen starben. Foto: DaMOst

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