Über das MDR-Hörspiel „Atlas“ von Thomas Köck

„Wer durch diese blühenden Landschaften einmal spazieren darf?“, fragt die namenlose Vietnamesin im Hörspiel „Atlas“ angesichts des Mauerfalls. Sie ist skeptisch, was die Zukunft angeht. Zu recht, denn kurz darauf ertönt die Ansage: „Wir würden Sie bitten, dieses Land, das jetzt nicht mehr existiert, jetzt zu verlassen“.

Präzise, zynisch und abgeklärt ist der Ton des rund 70-minütigen Hörspiels von Thomas Köck. Im Zentrum des Hörspiels steht die Perspektive ausländischer Vertragsarbeitender auf DDR-Alltag und Wendezeit. Daneben geht es, integriert durch eine Familiengeschichte, auch um das Ende des Vietnamkrieges. Ferner geht es um Bootsflüchtlinge und die Schwierigkeit, über Traumata und verschiedene Kulturen hinweg zueinander zu finden. Dabei bedient sich Köck häufig Wortspielen und philosophischen Betrachtungen. Diese mischt er gekonnt mit Momentaufnahmen und Situationsbeschreibungen.

Die Frage nach Erinnerungs- und Deutungshoheit

Wie ein roter Faden durchzieht das 2021 produzierte Hörspiel die Frage nach Erinnerungs- und Deutungshoheit. Etwa, wenn die „Großmutter“ aus Saigon lakonisch resümiert, dass ihre Aufnahme als Kontingentflüchtling in die BRD mehr mit dem Reinwaschen des Gewissens als mit echter Humanität zu tu gehabt hatte. „Wir durften gehen für den Bilderkrieg“. Oder wenn die in der DDR lebende vietnamesische Dolmetscherin konstatiert: „Wir ziehen der Zeit Geschichten an, weil wir ihre nackte, gleichgültige Geschichtslosigkeit nicht aushalten“.

Gehen Einheitsstreben und Nationalismus mit Diskriminierung einher?

Mit dem Beleuchten der Nachwendezeit als einer Periode großer Verunsicherung und materieller Not für die in die DDR eingewanderten Migrant*innen wirft das Stück noch weitere Fragen auf. Zum Beispiel, ob Einheitsstreben und Nationalismus überhaupt je ohne Diskriminierung und Ausschluss von Minderheiten einher gehen können: „Vereinigung bedeutet: gegen wen?“.

Statement zur Frage, wem die Erinnerungskultur gehört

Ein klares Statement zur Frage, wem Erinnerungen gehören, liefert der MDR mit der Sprecher*innenbesetzung ab. Die drei vietnamesisch-stämmigen Figuren im Hörspiel sind auch mit vietnamesisch-deutschen Sprecher*innen besetzt. Das war bei der Produktion des gleichnamigen Theaterstücks von Köck am Schauspiel Leipzig noch anders. Dort führte das Fehlen von asiatisch-stämmigen Personen sowohl hinter als auch auf der Bühne 2019 für harsche Kritik von asiatisch-deutschen Kunst- und Kulturschaffenden.

Wer sich jetzt das Hörspiel Atlas von Thomas Köck anhören möchte, kann das hier in der MDR-Mediathek tun.

Ebenfalls in der MDR-Mediathek gibt es ein Interview mit dem Autor Thomas Köck.

Titelfoto: Michael Gaida, Pixabay gemeinfrei 

Über den Autor

Julia Solinski

Julia Solinski ist Mitarbeiterin im Projekt „MigOst – Ostdeutsche Migrationsgesellschaft selbst erzählen“ beim Dachverband der Migrant*innenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOst e.V.).

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