ERINNERN STÖREN lautet der provokant erscheinende Titel eines Sammelbandes von Lydia Lierke und Massimo Perinelli. Der Band ist 2020 beim Verbrecher-Verlag erschienen. Erinnern stört man doch nicht, so mein erster Impuls, wie pietätlos! Beim Lesen des Untertitels „Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“ wurde mir allerdings schnell klar, worum es in dem Band geht. Und sogleich erschien mir die „Störung“ in einem anderen, guten Licht.
Diese Vereinigung war nicht meine Vereinigung
Bilder von hochoffiziellen Wiedervereinigungsfeiern kamen hoch. Ich, und viele andere auch, die wie ich so gar nichts damit anfangen konnten. Diese Vereinigung war nicht meine Vereinigung. Die Feiern und offiziellen Lobhudeleien ignorierte ich. Das, was dort verkündet wurde, war die Erzählung eines vollkommenen, perfekten Veränderungsprozesses, in dem alle – außer ein paar Stasibonzen und DDR-Machteliten – permanent glücklich waren. Sie waren zufrieden, endlich dazugehören zu dürfen, in dem ein Unrechtsregime durch die lang ersehnte und tapfer erkämpfte Demokratie ersetzt wurde … usw. Und auch: in dem das DDR-Märchen von den „neuen Menschen“, die angeblich entstanden waren, durch ein neues Märchen von Menschen, die ebenso holzschnittartig, homogen und widerspruchsfrei gezeichnet waren, ersetzt wurde.
ERINNERN STÖREN macht andere Erzählungen hörbar
In den letzten Jahren werden endlich andere Erzählungen hörbar und mittlerweile auch lauter. Alle, deren Erleben und Fühlen, deren Sicht auf Mauerfall, Wendezeit und Wiedervereinigung nicht in die salbungsvollen Einigkeits-Lobhymnen passt, melden sich zu Wort. Nun habe ich auch Worte für das, was 30 Jahre lang gefehlt hat: multidirektionales Erinnern. ERINNERN STÖREN liefert einen unverzichtbaren Beitrag dafür.
ERINNERN STÖREN. Ausgegrenzte Perspektiven auf die deutsch-deutsche Vereinigung
Der Mauerfall vor 30 Jahren bedeutete eine gewaltvolle Zäsur für migrantisches und jüdisches Leben in Ost und West. Während die einen vereinigt wurden, wurden die anderen ausgeschlossen. Das vorliegende Buch möchte ausgegrenzte Perspektiven auf die deutsch-deutsche Vereinigung wieder sichtbar machen und an die Kämpfe um Teilhabe in den 1980er Jahren, einschneidende Erlebnisse um die Wende und die Selbstbehauptungen gegen Rassismus der 1990er Jahre erinnern.
Lierke, Lydia / Perinelli, Massimo (Hg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, 2020.
Vielleicht bieten die kommenden Feiertage eine gute Gelegenheit, sich in den Band zu vertiefen und sich selbst an das eine oder andere Ereignis jener Zeit zu erinnern.
ERINNERN STÖREN. DER MAUERFALL AUS MIGRANTISCHER UND JÜDISCHER PERSPEKTIVE
Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hg.)
Broschur, 540 Seiten
Preis: 20,00 €
ISBN: 9783957324511
Wer mehr wissen und hören will: hier der taz Talk #71 vom 05.11.2020, mit Massimo Perinelli und Lydia Lierke über ihr Buch „Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“.
Titelfoto: Ildigo auf Pixabay