Migration geschieht oft auf Umwegen. Vor allem Flüchtende können sich ihre Route und sogar ihr Zielland in der Regel nicht aussuchen. Dementsprechend mühsam, langwierig und gefährlich gestaltet sich ihre Irrfahrt über verschiedene Grenzen hinweg. Dabei können schon kleine Zufälle eine entscheidende Wende bringen. Heute wollen wir euch ein Beispiel für ein solches überraschendes Ereignis vorstellen, dass an nur einem Tag eine Massenflucht aus der DDR und in den Westen ermöglichte. Die Rede ist vom Paneuropäischen Picknick am 19. August 1989.

Die Vorgeschichte

Bereits ein ganzes Jahrzehnt vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den Jahren 1989/90 begann in Mitteleuropa die Macht des sowjetischen Regimes in den jeweiligen Ländern und über die Landesgrenzen hinweg zu bröckeln. Vor allem in Polen und Ungarn breiteten sich oppositionelle Kräfte aus. Sie forderten Reformen – zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet, zuletzt aber auch gegen die staatliche Unterdrückung, für Reisefreiheit und für die Aufhebung der europäischen Teilung.

Was ein Ostblockstaat beschloss blieb für die anderen Staaten jedoch nicht ohne Folgen. Um die Rücksendung der rumänischen Geflüchteten zu verbieten trat Ungarn im März 1989 der Genfer Flüchtlingskonvention bei. Daraufhin hofften auch viele Ostdeutsche, den sowjetischen „Bruderstaat“ als erste Etappe auf ihrer Flucht nach Westdeutschland nutzen zu können – zumal ungarische Staatsbürger:innen seit Beginn des Jahres mit ihrem „Weltpass“ auch westliche Länder bereisen durften. Das Privileg aus der DDR in westliche Staaten zu reisen war weiter streng reguliert. Der Weg in andere sowjetische Staaten blieb dagegen vergleichsweise einfach.

Vorstellungen einer unkomplizierten Ausreise über Ungarn in den Westen erfüllten sich jedoch nicht. Auch in Ungarn gab es nach wie vor strenge Grenzkontrollen nach Österreich. Im Gegensatz zu der DDR schien hier der endgültige Abbau der Grenzanlage und damit zahlreiche Fluchtmöglichkeiten aber in erreichbare Nähe gerückt.

Ein Volksfest für die europäische Einigung

Mit der Schrittweisen Annäherung zwischen Ungarn und den westlichen Staaten Europas entstanden gemeinsame Aktionen mit den österreichischen Nachbar:innen. Erste Feste im Grenzraum wurden möglich. So formte sich auch die Idee zu einer österreichisch-ungarischen Feier in der ungarischen Grenzstadt Sopron. Junge Oppositionelle aus Debrecen, am anderen Ende des Landes nahe der rumänischen Grenze, hatten andere Oppositionsgruppen dazu angeregt. Zuletzt setzten sich Mitglieder unterschiedlicher demokratischer Parteien für die Entstehung des Paneuropäischen Picknicks ein. Bis die österreichischen und ungarischen Behörden die dafür notwendige, zeitweilige Grenzöffnung genehmigten dauerte es aber. Dementsprechend konnte erst wenige Tage vor dem Fest angekündigt werden, wann und wo genau die Grenzöffnung stattfinden würde. Dann stand der Feier nichts mehr im Wege.

Zweisprachiges Ortsschild von Sopron/Ödenburg, Foto: Flexman, CC BY-SA 4.0

Das Paneuropäische Picknick als Schlupfloch

Geplant war ein geordnetes Fest, ein gemeinsames Picknick österreichischer und ungarischer Bürger:innen zur Feier der europäischen Einigung. Unter dem Motto „Bau ab und nimm mit“ sollten die Teilnehmer:innen symbolisch einen vergleichsweise unerheblichen Teil der Grenzanlage gemeinsam abbauen. Der Grenzübertritt selbst wurde mit dem jeweiligen Pass an einem provisorischen Grenzübergang ermöglicht.

Als am 19. August um 15 Uhr der Eiserne Vorhang zwischen Ungarn und Österreich für wenige Stunden geöffnet wurde, warteten aber nicht nur Ungar:innen oder Österreicher:innen sehnlichst darauf, die Grenze zu überqueren. Am Festplatz hatte sich eine große Menge ostdeutscher „Urlauberinnen und Urlauber“ versammelt. Angesichts ihrer Masse entschloss sich der zuständige, ungarische Oberstleutnant Árpád Bella kurzerhand dazu ihre Ausreise zu gewähren. Über 600 DDR-Bürger:innen flohen an diesem Tag über die geöffnete ungarisch-österreichische Grenze aus dem Ostblock.

Nachspiel

Weniger als einen Monat nach dem Paneuropäischen Picknick, am 11. September 1989, begannen Grenzsoldaten mit dem rechtmäßigen und dauerhaften Abbau der Grenzanlage zwischen Österreich und Ungarn. Der Eiserne Vorhang durch Europa hatte ein Loch bekommen und die Anzahl der Geflüchteten aus der DDR explodierte. Welche Bedeutung kam da rückblickend noch dem Paneuropäischen Picknick zu?

„Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer gebrochen.“ Mit diesen Worten würdigte Bundeskanzler Helmut Kohl nach der innerdeutschen Grenzöffnung im November 1989 die Vorreiterrolle Ungarns. Symbolisch und politisch setzte sich mit dem Paneuropäischen Picknick – inklusive der ungehinderten Massenflucht – eine Entwicklung in Gang, die nicht mehr aufzuhalten schien. Was viele Beteiligte nicht wussten: Die kurzzeitige Grenzöffnung am 19. August war von ungarischen Regierungsmitgliedern als gezielter Test wahrgenommen worden. Mit dieser Erfahrung ließ sich erahnen, was der Grenzabbau bewirken würde und mit welchen Reaktionen innerhalb des Ostblocks zu rechnen sei. Als weitreichende Sanktionen oder Einschüchterungen nach dem Paneuropäischen Picknick ausblieben, begannen wenige Tage später Verhandlungen mit der BRD. Die DDR-Regierung war als Verhandlungspartnerin ausgeschieden. Und die weitere Ausreise ostdeutscher Bürger:innen über Ungarn nach Westdeutschland ließ sich nunmehr eben so wenig aufhalten wie die zügige Auflösung der Sowjetunion.

Titelbild: Denkmal mit dem Titel "Umbruch/Áttörés" zur Erinnerung an das Paneuropäische Picknick in der Nähe von Sopron; Künstler: Miklós Melocco, Foto: CC BY-SA 3.0

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Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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