Schon ab den 1950er Jahren hat sich die Esskultur in der Migrationsgesellschaft Westdeutschlands grundlegend gewandelt. Vor allem die Zuwanderung sogenannter Gastarbeiter führte zu einer zunehmenden Vielfalt auf dem Speiseplan. Sie alle brachten ihre eigene Esskultur mit. Zugleich lernten viele Deutsche als Touristen im Ausland neue Speisen kennen. Diese schätzten sie in Deutschland als Erinnerung an den Urlaub oder als kulinarische Bereicherung. Wie haben sich neue Gerichte in die deutsche Küche integriert? Welche wirtschaftlichen Zusammenhänge sind zu erkennen?

Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Esskultur in den 1950er Jahren in Westdeutschland

Wiederaufbau und Wirtschaftswunder brachten Westdeutschland in den 1950er Jahren mehrere Konsumwellen. Als unmittelbare Reaktion auf die Mangelerfahrung der Kriegs- und Nachkriegsjahre setzte gegen Mitte der 1950er Jahre eine regelrechte „Fresswelle“ ein. Grund waren u.a. die Währungsreform 1948 und die Aufgabe der Lebensmittelbezugsscheine 1950. Reichlich Kartoffeln, dicke Soßen und Schweinebraten mit Fettkruste wurden zum Inbegriff des wohlverdienten Sonntagsmahls. Reichhaltiges Essen in großen Portionen und die daraus folgende Leibesfülle bei Männern und Frauen galten als Zeichen eines neuen Wohlstands.

Der Blick nach Amerika und Abkehr vom Alten

Das Ende des Zweiten Weltkriegs läutete in der westlichen Welt eine Periode scheinbar grenzenlosen Wachstums ein. Westdeutschland und das westliche Europa blickten zunehmend in die USA, die zur esskulturellen Leitnation wurden. Das betraf die Stofflichkeit des Essens – Hamburger, Kaugummi, Cola –, aber auch die sozialen Aspekte. Essen außerhalb von Mahlzeiten, im Rahmen von Fast Food und to go, war dort seit langem akzeptiert. Nun gelangte es nach Europa.

In Westdeutschland machten sich Modernisierungstendenzen stärker bemerkbar als in allen Nachbarländern. Denn neue Essmuster drückten auch eine bewusste Abkehr von der NS- und Kriegsvergangenheit aus.

Pizza und Pasta. Italienische Esskultur gegen Heimweh

Bis in die 1960er Jahre hinein waren Warenangebot und Speiseplan jedoch noch stark regional und national geprägt. Während in der deutschen Küche Kartoffeln, Fleisch, Hülsenfrüchte und Gemüse wie Kohl und Rüben vorherrschten, war die italienische Küche von Nudeln, Pizza und vielfältigem frischem Gemüse geprägt. Die unterschiedlichen Essgewohnheiten führten z.B. während der ersten Jahre des deutsch- italienischen Anwerbeabkommens (Unterzeichung des Abkommen 1955) zu vielfachen Problemen. Die deutsche Kantinenkost war für die angeworbenen „Gastarbeiter“ ungewohnt und unbekömmlich.

Viele von ihnen waren jedoch auf die angebotene Vollverpflegung angewiesen. Ausreichende Kochmöglichkeiten für die Selbstversorgung waren in den Sammelunterkünften jedoch selten. Zudem waren italienische Grundnahrungsmittel wie Nudeln, Olivenöl, Hartkäse, mediterranes Gemüse sowie Kräuter in Deutschland kaum erhältlich. Doch die gewohnte Verpflegung war ein dringendes Bedürfnis. Sie bedeutete vielen auch ein Stück Heimat. So wurde teilweise der Betrieb von Kochplatten in den engen Wohnheimzimmern geduldet. Dank mitgebrachter Zutaten aus der Heimat konnten sich die italienischen Arbeiter zum Teil improvisiert selbst versorgen.

In den 1960er Jahren entdeckten Einzelhandelsketten die angeworbenen „Gastarbeiter“ in Westdeutschland als Wirtschaftsfaktor. Um sie als Konsumenten zu gewinnen, erweiterten sie ihr Lebensmittelangebot um typische Nahrungsmittel aus den Anwerbeländern.

Ausländische Esskultur und Urlaubsexotik

Die Urlaubs- und Reisewelle führte Millionen von westdeutschen Urlaubern in den 1950er und 1960er Jahren in die Länder Südeuropas. Italien, Griechenland und Spanien waren die beliebtesten Urlaubsziele der Westdeutschen. Während des Urlaubs lernten viele die ausländischen Gerichte kennen. In Westdeutschland galten italienische, giechische oder spanische Speisen bald als exotisch, modern und weltoffen. Rezepte dieser „exotischen Speisen“ hielten Einzug in Kochbücher und wurden in Frauenzeitschriften besprochen.

Im beliebten Kochbuch „Was Männern so gut schmeckt. Eine kulinarische Weltreise in 500 Rezepten.“ von 1953 werden deutsche Hausfrauen darauf hingewiesen, dass ihre Männer schon „herumgekommen sind“ und sich Abwechslung auf dem Tisch wünschen.

Aus einem Bericht der Frauenzeitschrift „Brigitte“, 1956

Auf offenem Holzkohlenfeuer wird die berühmte italienische ‚Pizza‘ gebacken, und erst diese bäuerlich-ursprüngliche Backart gibt ihr den einzigartigen Geschmack. Die Pizzen sind runde, flache Kuchen aus weißem Brotteig mit erhöhtem Rand, in dessen Mitte ein würziger Aufstrich ineinander verfließt: Tomate, Mozzarella-Käse, Sardellen – allerdings gibt es etwa 150 Variationen der Pizza mit verschiedenen Aufstrichen. Man ißt die Pizza heiß und knusprig, so wie sie aus dem Ofen kommt, und am besten in der ‚Pizzeria‘ einem jener unzähligen kleinen Restaurants, die es in ganz Italien gibt – nicht nur in der Gegen von Neapel, wo die Pizza zu Hause ist.

Brigitte, Nr. 10, 1956, S. 19.

Internationale Esskultur als Fertigprodukt

Im Zuge der Modernisierungsbestrebungen kam es seit den späten 1950er Jahren zu einer raschen Technisierung des Haushalts. Es folgte eine ersten Welle von Tiefkühl- und Convenience-Produkten. Am 14. Mai 1958 gingen im Maggi Werk in Singen zum ersten Mal die bekannten „Ravioli in Tomatensauce“ vom Band. Damit gelangte erstmals ein Fertigprodukt auf den Markt, das auf breite Akzeptanz stieß. Durch die italienischen „Gastarbeiter“ und aus Urlauben waren die italienischen Ravioli in Westdeutschland längst bekannt. Bis heute gehören sie zu den beliebtesten ungekühlten Fertiggerichten Deutschlands. Weitere Internationalisierungswellen brachten auch später erneut eine Ausweitung der Fertigprodukte mit sich.

Gründung von Restaurants – der Weg in die Selbständigkeit

Mehr Migranten wagten den Weg in die Selbständigkeit und gründeten Restaurants. Sie boten Gerichte aus ihrer Heimat an. Mit Dekorationen, die den Deutschen von ihren Urlaubsreisen bekannt waren, versuchten viele Restaurantbetreiber mediterrane Stimmung zu erzeugen. So erinnerten sie an die Urlaubsfreuden. Bastumwickelte Weinflaschen, Fischernetze mit Seesternen, antike Säulen und Fotos von bekannten Bauwerken wurden zu Symbolen der Sehnsucht nach Urlaub und Heimat. Der Erfolg der italienischen, spanischen oder griechischen Restaurants führte einerseits zu einer Art Selbstinszenierung und Selbstethnisierung der verschiedenen Migrantengruppen. Andererseits wurden vielfach Speisen und Getränke an den deutschen Geschmack angepasst, um größere Akzeptanz zu finden.

Der sogenannte Balkan-Grill

Neben der italienischen Eisdiele und dem Pizzeria-Ristorante prägte auch der „Balkan-Grill“ die ausländische Gastronomielandschaft. Bereits in den 1950er Jahren ist vielerorts ein Balkan-Grill nachweisbar. Er bote ein zu Zeiten der Fresswelle vergleichsweise günstiges und fleischlastiges Speisenangebot. Dieses vermittelte zwischen der bekannten Wiener und der damals noch als exotisch empfundenen türkischen Küche. In den 1970er Jahren war der Balkan-Grill auch in ländlichere Regionen Westdeutschlands vorgedrungen. Angeboten wurde jugoslawische, oft aber auch ungarische und bulgarische oder rumänische Küche. Erstaunlich ist der Erfolg dieses Restauranttyps in internationaler Perspektive. In keinem anderen Land außerhalb Jugoslawiens (mit Ausnahme Österreichs) haben sich diese Restaurants derart flächendeckend durchsetzen können wie in Westdeutschland.

Balkangerichte auf deutschen Speisekarten

In ihrer Blütezeit von den 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre wurde die Balkanküche im Hinblick auf Beliebtheit und Ausbreitung lediglich von der italienischen Küche übertroffen. Kochbücher der 1960er Jahre weisen darauf hin, dass die Leserschaft dieses oder jenes Gericht „vielleicht schon von Balkanrestaurants“ her kenne. Auch Restaurants mit deutscher Küche nahmen ab den 1950er Jahren sogenannte Balkanspezialitäten in ihr Sortiment auf. Spätestens in den 1960er Jahren gehörten Djuveć und Ćevapčići auf abwechslungsreiche deutsche Speisekarten.

Restaurants der Migrantinnen und Migranten als neuer Wirtschaftsfaktor

Die gastronomischen Betriebe von Migrantinnen und Migranten entwickelten sich seit Ende der 1950er Jahre zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor in Westdeutschland. Die zahlreichen, meist von Familien geführten Betriebe – von der italienischen Eisdiele über das spanische Restaurant bis zum türkischen Imbiss – bildeten nicht nur die Existenzgrundlage für Tausende von Kleinunternehmern. Auch Ladenausstattern und Lebensmittellieferanten verhalfen sie zu gutem Umsatz.

Gesellschaftliche Entwicklung spiegelte auch die ARD-Serie „Lindenstraße“ wider. So gehörten Familie Sarikakis und ihr griechisches Restaurant „Akropolis“ seit der Erstausstrahlung 1985 bis zum Ende der Serie zum festen Kern. Foto: Lindenstraße, Kulisse des Restaurants „Akropolis“ Ecke Lindenstraße / Kastanienstraße, Mabit1 auf Wikipedia gemeinfrei

Deutsche Esskultur heute

Während die westdeutsche Esskultur in den 1960er Jahren zunächst durch mittelosteuropäische, italienische und griechische Restaurants und die Gasthauskultur jener Menschen, die als Arbeitsmigranten gekommen waren, geprägt wurde, nahmen ab den 1980er Jahren auch die als türkisch oder asiatisch gelabelte Schnellrestaurants zu. Heute sind Pizza, Pasta, Döner und Currygerichte fest in die deutsche Esskultur und den Speiseplan der Deutschen integriert. So manche Restaurants mit ausländischen Spezialitäten werden von Familien mit Migrationsgeschichte bereits in der zweiten und dritten Generation geführt.

Dieser Eintrag enthält Teile eines Beitrages von Dietmar Osses aus dem Materialienband Praktische Geschichtevermittlung ind der Migrationsgesellschaft, der 2012 in Zusammenarbeit mit Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschien. 

Titelfoto: privat

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arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. Der Begriff SEITEN:BLICK steht für die Blicke, die wir links, rechts und hinter "die Dinge" werfen wollen.

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