Zum Zeitpunkt des Mauerfalls im November 1989 lebten in der DDR 16,43 Millionen
DDR-Bürger und mehr als 192.000 ausländische Staatsangehörige. Das entsprach etwa einem Prozent der DDR-Bevölkerung. Die Friedliche Revolution wendete und veränderte das Leben aller Menschen in Ostdeutschland nachhaltig. Für die einen mehr, für die anderen weniger. 30 Jahre danach sind jedoch im kollektiven Gedächtnis die persönlichen Perspektiven der Ostdeutschen auf die Jahre nach der Wiedervereinigung, die sogenannten Transformationsjahre, noch nicht hinreichend abgebildet. Das betriff die Ostdeutschen ohne, aber vor allem diejenigen mit Migrationsgeschichte.

Erinnerung an persönliche Alltagserfahrungen und Geschichten der 1990er Jahre in Ostdeutschland

Dennoch wünschen sich Ostdeutsche mit und ohne Migrationsgeschichte, dass ihre Alltagserfahrungen in den 1990er Jahren, ihre Erinnerungen und Lebensleistungen wahrgenommen werden. Diesen Wunsch greifen die Autorinnen und Autoren der Publikation der 2022 erschienen Publikation „Migrationsgesellschaft und Transformationsgesellschaft in Ostdeutschland“ auf.

Den persönlichen Herausforderungen, Veränderungen, Orientierungsprozessen und Versuchen eines Neuanfangs für die Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte in den ersten zehn Jahren nach der Wiedervereinigung nachzugehen, ist ein Schwerpunkt der Publikation. In einem zweiten Schwerpunkt geht es um die Frage, welche Chancen und Herausforderungen die Transformationsjahre für die Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte in Ostdeutschland bis heute mit sich bringen.

In sieben Interviews kommen ostdeutsche Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte zu Wort; Ostdeutsche, die vor 1989 in der DDR lebten, Nachgeborene und später Zugezogene. Durch die Erzählungen der Zeitzeuginnen eröffnen sich uns persönliche Blicke auf die Transformationsjahre. Wo ähneln sich und wo unterscheiden sich die verschiedenen Sichtweisen auf die Jahres des Wandels? In einem abschließenden Teil werden die Interviews nach verschiedenen Aspekten ausgewertet und kontextualisiert.

Transformation in Ostdeutschland – „Gleichzeitigkeit der Unsicherheit“

Die Zäsur von 1989/90 ermöglichte einen politischen Systemwechsel und die Transformation in den 1990er Jahren. Die Friedliche Revolution von 1989/90 war durch ein enormes Tempo und die gleichzeitige Veränderung aller Lebensbereiche gekennzeichnet. Über Jahre hinweg befanden sich die Menschen in Ostdeutschland in einem gesellschaftlichen Wandel. Transformation beschreibt der Historiker Philipp Ther als „einen besonders tiefgreifenden, umfassenden und beschleunigten
Wandel des politischen Systems, der Wirtschaf und der Gesellschaf“. Bereits Anfang der 1990er Jahre bezeichnete der Sozial- und Politikwissenschaftler Claus Ofer diesen triefgreifenden Wandel des Systems als „Dilemma der Gleichzeitigkeit“. Die zeitgleich ablaufenden Veränderungen trafen die unterschiedlichen Generationen sowie die Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte unterschiedlich stark. Denn nicht nur auf politischer Ebene fanden die Veränderungen statt, sie griffen auch in das persönliche Leben jedes und jeder Einzelnen ein. Sämtliche lebensweltlichen Bereiche änderten sich gleichzeitig, was eine große Flexibilität verlangte. Wenn die Routinen des Alltags erschüttert werden und „in diesen Alltag ein Systemwechsel integriert werden muss, erfordert das vielfältige Anpassungen und bringt Unsicherheiten mit sich“, konstatierte die Historikerin Kerstin Brückweh. Von Zuversicht und Euphorie bis zu Unsicherheit und (Todes-) Angst gehörte für die Menschen in den Transformationsjahren emotional alles dazu.

Das Potsdamer Historiker:innenteam um Kerstin Brückweh sieht die „Gleichzeitigkeit der Unsicherheit“ als prägendes Charakteristikum der Transformationsjahre. Der Verlust von Stabilität und eine Unvorhersehbarkeit verliefen parallel. Diese Gleichzeitigkeit der Unsicherheiten begleitete Ostdeutsche noch bis weit in die 1990er Jahre hinein.

Die Realität der ostdeutschen Migrationsgesellschaf benennen


30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind im kollektiven Gedächtnis die Perspektiven der (ehemaligen) Migrant:innen und Vertragsarbeiter der DDR noch nicht hinreichend repräsentiert. Auch in Ostdeutschland gibt es, wie in Westdeutschland, migrantische Kontinuitäten. Diese würden jedoch zu wenig benannt und erzählt, so die Migrationsforscherin Noa K. Ha. Bisher sei die Migrationserzählung in Deutschland noch zu sehr vom westdeutschen Narrativ der „Gastarbeiter“ geprägt.

Fakt ist, eine ostdeutsche (post-)migrantische Realität ist vorhanden. In jüngerer Zeit organisieren sich in Ostdeutschland zunehmend mehr migrantische Vereine. Sie bilden Dachverbände, treten selbstbewusst auf, engagieren sich und fordern ihr Recht auf Teilhabe ein. Aus dieser ostdeutschen migrantischen Perspektive kommt im übertragenen Sinn die Aussage ‚Wir sind schon lange da und wir bleiben hier‘. Zielführend ist daher eine Erzählung der ostdeutschen Geschichte, die auf die Vielfalt der Erinnerungen und Perspektiven eingeht.

Ziel der Publikation

Die vorliegende Publikation richtet sich in erster Linie an Akteure und Multiplikator:innen in Kommunen in Ostdeutschland, aber auch an alle anderen Interessierten. Ziel ist die Ermutigung, regional nach den Erinnerungen von Menschen verschiedener Gruppen und Herkünfte zu fragen und sie sichtbar zu machen. Dabei kann das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaf vor Ort als Ausgangpunkt dafür genommen werden, einen vielfältigen Blick auf die Transformationsjahre vor Ort zu werfen.

Migrationsgesellschaf und Transformationsgesellschaf in Ostdeutschland 
Eine Publikation von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. und dem Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V.; herausgegeben von Deniss Hanovs, Dennis Riffel, Anastasia Sudzilovskaya, Anja Treichel, Ruth Wunnicke, Berlin 2022. Softcover, 160 Seiten. 

Die Publikation wurde von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in Zusammenarbeit mit dem Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V. (BVRE) erarbeitet. Sie erscheint im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft“ im Bundesprogramm „Demokratie leben!“. 
Bei Interesse kann die Broschüre in der Geschäftsstelle von GEGEN VERGESSEN - FÜR DEMOKRATIE e.V. kostenfrei bestellt oder hier heruntergeladen werden

Über den Autor

SEITEN:BLICK

arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. Der Begriff SEITEN:BLICK steht für die Blicke, die wir links, rechts und hinter "die Dinge" werfen wollen.

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