Deiche, Flachland, Kohl auf den Feldern und vermutlich mehr Schafe als Einwohner – das zeichnet den kleinen Kreis Dithmarschen an der Westküste Schleswig-Holsteins aus.  
Doch gerade hierhin, etwa 100 km über Hamburg, führen die Wege der unterschiedlichsten Menschen! Und so hat es sich eine kleine Stiftung aus dem hohen Norden Deutschlands zur Aufgabe gemacht, mit dem Bildungsformat „MIGRATION IN DITHMARSCHEN“ eben diese Geschichten der Zuwanderung endlich sichtbar werden zu lassen. Eine Spurensuche zur lokalen Migrationsgeschichte.

Ein Beitrag von Amelie B. und Marie M.

Die Geburtsstunde des Projekts 

Heißer Tee, eine unangerührte Schale Kekse, aufgeschlagene Notizbücher – so beginnt das erste Treffen der frisch ins Leben gerufenen Bildungsinitiative der „Stiftung Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung. Erfahrene Ehrenamtler*innen und junge Neueinsteiger*innen beschnuppern sich neugierig.  
So richtig fest steht noch nicht, wofür wir uns in den nächsten Monaten regelmäßig versammeln werden., Doch selbst die besten Ideen teilen ihren Anfang auf einem leeren Blatt Papier.  
Welche Themen wollen wir bearbeiten? Welche Medien können wir dafür nutzen? Mit wem könnten wir zusammenarbeiten, um unsere Vision in die Realität umsetzen?  
Und vor allem: Was braucht Dithmarschen?  
Schnell steht vor allem ein Thema im Raum: Migration.

Migration in Dithmarschen, so stellen wir fest, wird viel zu oft mit Krise verbunden und viel zu selten umfassend dargestellt.  Dabei, so sind wir uns alle einig, ist es wichtig, der Gesellschaft aufzuzeigen, wie Integration gelingen kann und ganz besonders, dass Integration gelingen kann.

Was wollen wir also tun, um den Blick der Dithmarscher*innen auf die zahlreichen, diversen Migrationsgeschichten in unserem Heimatkreis zu richten? 
Udo Gittel, ehemaliger Lehrer und seines Zeichens Kultur- und Literaturliebhaber, hat schließlich die zündende Idee. Dithmarscher*innen erzählen ihre eigenen Migrationsgeschichten, prominent und für alle lesbar ausgestellt, im Herzen der Stadt.

Inspiriert zu diesem Bildungsformat hat mich besonders die Ausstellung „This is me. Queer und religiös.“ im Jüdischen Museum Rendsburg. Da kam mir die Idee, Migration ganz konkret am Schicksal Einzelner als elementaren Bestandteil Dithmarschens aufzuzeigen.

Dr. Udo Gittel, Vater des Projekts und Mitglied des Vorstandes der Stiftung „Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung“

Ein guter Plan ist die halbe Miete  

Inzwischen nehmen die Einzelheiten des Ablaufes Gestalt an. Wir starten im Juli 2022, bis zum Winter 2023 wollen wir uns Zeit nehmen. Bis dahin gilt es zunächst, zehn Dithmarscher*innen zu finden, die ihre persönlichen Migrationsgeschichten mit einer breiten Öffentlichkeit teilen möchten. Dazu braucht es viel Vertrauen. Denn wir wollen nicht nur ein etwa einstündiges Interview mit ihnen führen, wir bitten auch um Fotos. Diese wollen wir später auf 1,5×2 Meter Plakate drucken. Ein nahes Porträt, ein Ganzkörperfoto ohne Gesicht, persönliche Kunst oder ein Gegenstand, der den eigenen Weg nach Dithmarschen symbolisiert … Ganz egal, Hauptsache, es repräsentiert die jeweilige Migrationsgeschichte. Und wohlfühlen mit der Darstellung sollen sich unsere Interviewpartner auf jeden Fall auch. Das letzte Wort liegt in allen Arbeitsschritten bei ihnen.

Nachdem das Interview über die Diktierfunktion unserer Smartphones aufgenommen, sowie von uns transkribiert, gekürzt und redaktionell bearbeitet wurde, legen wir es unseren Partnern vor. Wollen sie einen Satz oder einen Teil ihrer Geschichte lieber zurücknehmen, schneiden wir ihn heraus. Wollen sie dagegen eine bestimmte Botschaft besonders betonen, wird sie direkt auf das Plakat gedruckt. Direkt daneben wird ein QR-Code auf die Website der Stiftung leiten, wo dann die jeweiligen Interviews zusammen mit aufbereiteten Hintergrundtexten zur Information zu lesen sein werden.  

Der Plan für die Präsentation im öffentlichen Raum

Schließlich, wenn alle diese Dinge getan und geschafft sind, werden unter dem Namen „MIGRATION IN DITHMARSCHEN“ diese zehn Geschichten auf wetterfesten Plakaten gedruckt. Sie sollen  rund um die zentral in Heide gelegene St. Jürgen Kirche ausgestellt werden. Die Kirchengemeinde Heide hatte sich schon häufig als starker und motivierter Kooperationspartner der „Stiftung Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung“ gezeigt. Ohne sie  wäre für die Stiftung die lokale Demokratieförderung kaum möglich, zeigt die Erfahrung.  
Und der Ort ist perfekt. Menschen allen Alters erledigen auf dem Samstagsmarkt unmittelbar neben der Kirche ihre Wocheneinkäufe. Jugendliche verbringen ihre Nachmittage in der angrenzenden Fußgängerzone. Und zwischen Sommerzeit und den ersten, noch warmen Tagen des Herbsts, locken Eisdielen und Cafés geradewegs in Richtung des Kirchengeländes.  
Damit ist der Grundstein gelegt!  

St. Jürgen Kirche in Heide Dithmarschen. Auf dem Gelände der Kirche werden die Exponate 2024 zu sehen sein. Foto: privat

Es wird konkret – Vom Grundstein zum Gerüst

 Zeitzeug*innen für unser Projekt finden wir, indem diese ihr Vertrauen in uns finden. Wir berichtenihnen genauestens von unseren Plänen und klären sie über unseren Umgang mit den persönlichen  Informationen auf. Zunächst suchen wir Kontakt zu Menschen, die uns bereits über Ecken bekannt sind. Diese führen uns wiederum weiter zu anderen Dithmarscher*innen mit völlig anderen Geschichten.Bald haben wir zehn Interviewtermine in unseren Kalendern markiert . Um unsere Interviews einheitlich zu gestalten, sowie unseren Gästen vorab eine Idee davon zu geben, was genau sie erwarten wird, haben wir gemeinsam einen Katalog an Fragen zusammengestellt. Das hilft uns bei der Orientierung und nimmt den Zeitzeug*innen sichtlich die Unsicherheit. . Der rote Faden des Katalogs leitet von der Ankunft in Deutschland zur ersten Phase des Einlebens bis hin zum gegenwärtigen Alltag. Wir fragen auch nach den zukünftigen Wünschen für das Leben in Dithmarschen.

Was uns interessiert. Unsere Fragen

Unter welchen Umständen haben Sie Ihre Heimat verlassen? Welche Gefühle begleiteten Sie damals durch Ihr erstes Jahr in Deutschland? Wer stand Ihnen zur Seite, was lag Ihnen im Weg? Wie gestaltet sich Ihr Kontakt zur alten Heimat heute? Gibt es Dinge, die Sie vermissen? Haben Sie typisch-deutsche Gewohnheiten und Traditionen angenommen, die Sie durch Ihren heutigen Alltag begleiten…?

Fragen haben wir viele. Doch merken wir während der Interviews schnell, dass diese fast gar nicht von Nöten sind. Die Migrationsgeschichten der Dithmarscher*innen warten meist förmlich darauf, erzählt und endlich gehört zu werden. So lebendig und so fesselnd, dass uns manchmal gar die Worte ausgehen, um überhaupt Fragen formulieren zu können. Die Interviews entwickeln sich zu respektvollen, aber vor allem auch locker-freundschaftlichen Gesprächen. Immer wieder lachen wir gemeinsam laut auf und staunen. Nicht zuletzt die Orte, an denen unsere Interviews stattfinden, sorgen  für eine besondere  Atmosphäre. Häufig treffen wir unsere Gäste genau dort, wo sich ein großer Teil ihres Alltags abspielt: An ihrem Arbeitsplatz.

So hören wir nicht nur von ihren Migrationsgeschichten. Wir bekommen gleichzeitig einen Einblick in das Leben, welches sie sich aus eigener Hand in Dithmarschen aufgebaut haben. Es wird immer wieder sichtbar, was für einen unfassbar wertvollen Beitrag sie täglich für die Bewohner*innen, Besucher*innen und das Bild des Landkreises leisten. Sie scheinen alle ihre wahre Berufung gefunden zu haben. Vom Arzt bis zum Pastor, von der Lehrerin zum Restaurantbesitzer, dem Musikschulleiter oder der Verwalterin für den Kreis.

Die Menschen so unterschiedlich wie ihre Geschichten

Dennoch, so lernen wir, fußt jede Geschichte auf Resilienz und beachtlichem Mut. Ein neues Leben in einem fremden Land zu beginnen, erfordert Entschiedenheit und eine hohe Frustrationstoleranz. Klare Visionen sind der Antrieb, das soziale Netz oft der Schlüssel zur nächsten Tür. Manchmal war es die Liebe, ein Kindheitstraum oder die Sehnsucht nach spirituellem Wachstum, die unsere Interviewgäste nach Deutschland trieb. Manchmal der Wunsch nach einer besseren Zukunft, vielleicht auch die Aussicht auf Weiterbildung oder einen passenden Job.

Alle Wege führen nach Dithmarschen

Keine*r unserer Interviewpartner*innen hätte dabei je geahnt, einmal in der kleinen Kreisstadt Heide zu landen. Niemand war sich der Existenz dieses ländlichen Ortes jemals bewusst. Und doch bezeichnen heute alle die kühlen Nordseewinde und das manchmal ebenso kühle Auftreten der Dithmarscher*innen als festen Bestandteil ihres Heimatgefühls. Schicksal war es wohl.

Das Ziel am Horizont

Inzwischen befinden wir uns tief im Arbeitsprozess. Interviews wurden und werden immer noch geführt, transkribiert, redigiert. Sachtexte werden gelesen, ausgewertet und diskutiert. Erste Plakatdesigns liegen vor, erste Termine für Fotos wurden gesucht. Noch liegt einiges an Arbeit vor uns. Doch  der Vorsitzende der Stiftung, Matthias Duncker, erinnert an unser Ziel:

Wir machen das, um zu zeigen, dass Migration nicht immer Krise bedeutet und auch ganz klar zu Dithmarschen gehört.

Dr. Matthias Duncker, Vorsitzender der Stiftung „Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung“


Das ist die Vision. Und wir liegen gut im Zeitplan. Voraussichtlich werden die Exponate im Januar 2024 fertiggestellt und dann sechs Wochen auf dem Gelände der Kirche zu sehen sein. Schaut doch mal vorbei. Schlendert über den Heider Wochenmarkt, genießt die Nordseewinde und lernt so ganz nebenbei Dithmarschen aus den verschiedensten Blickwinkeln kennen! Wir freuen uns auf euch!


Die Autorinnen: Amelie B. ist Mitglied des Rates der Stiftung „Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung“ und engagiert sich dort ehrenamtlich. Marie M. ist eine angehende Psychologie-Studentin und ebenfalls ehrenamtlich im Rat der Stiftung „Gegen Extremismus und Gewalt“ aktiv.

Titelbild: Samstagsmarkt auf dem Marktplatz in Heide Dithmarschen, im Hintergrund die Kirche St. Jürgen, auf deren Gelände die Ausstellung gezeigt wird. Foto: privat