„Woher kommen Sie?“

„Aus Deutschland.“

„Ja, aber woher kommen Sie wirklich?“

Wenn die Herkunft angezweifelt wird

Vielleicht war der Grund zum Unglaube in unserem Beispiel eine dunklere Hautfarbe. Vielleicht besaß die befragte Person einen ausländisch klingenden Namen. Möglicherweise trug sie eine Kopfbedeckung, hatte schwarze Haare, ein Akzent oder mandelförmige Augen. Dabei sind all das weder Ausschlusskriterien für die deutsche Staatsbürgerschaft, noch unterbinden sie, in Deutschland geboren zu sein. Für regelmäßige Verwirrung sorgen besagte Äußerlichkeiten trotz alledem. Zu beschränkt erscheint die Vorstellung eines stereotypisch-deutschen Erscheinungsbildes bei vielen Bürgerinnen und Bürgern.

„Wer vor langer Zeit aus der Fremde gekommen ist, mag vergessen, dass er ein Zugewanderter ist. Die Einheimischen aber vergessen es nie.“ – Manès Sperber

Der Grafikdesigner Patricio Handl weiß wovon er spricht, wenn er jene Zitate auf seine bunten Plakate druckt. Geboren ist der Künstler in Chile, aufgewachsen in Buenos Aires und Montevideo. Sein Vater war Wiener, seine Mutter eine uruguayische Politikerin. In den 70er Jahren studierte Handl Geschichte, Politologie und Philosophie in Hamburg, bis er kurz darauf nach Wien übersiedelte. Dort lebt er bis heute.

Die unfreundlichste Stadt der Welt

In einem internationalen Ranking von 2022 wurde seine derzeitige Heimatstadt auf den ersten Platz der „unfreundlichsten Städte für Einwanderer“ gewählt. Vor allem die beruflichen Perspektiven für Migrant*inn*en gelten hierbei als besonders spärlich. Dabei ist ein Migrationshintergrund in Wien keine Seltenheit: Eine Erhebung von 2023 ermittelte, dass jede zweite Person aus der österreichischen Hauptstadt eine Zuwanderungsgeschichte zu erzählen hat. Im Vergleich dazu liegt der Migrationsanteil der Gesamtbevölkerung derzeit bei 26,4%. [3]

Nicht nur deshalb empfindet Handl die verfestigte Tendenz zu konservativ-ausgerichteten politischen Entscheidungen in Österreich als zutiefst erschütternd. Aus seiner Sicht würden seit Mitte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich alle notwendigen Reformen von der Regierung und ihrer Wählerschaft verweigert werden; egal, ob in der Bildung, Verwaltung oder eben der Migrationspolitik. Gepaart mit dem populistischen Gedankengut vieler österreichischer Inländer*innen, wie er sie nennt, brachte ihn diese fremdenfeindliche Bewegung endgültig zur Erhebung. In den 80ern entdeckte Patricio Handl dabei seine Berufung:

„Der grafische Aktivismus ist meine Art am politischen Diskurs teilzunehmen.“

Seit jeher bringt der Grafiker seine Botschaften in Form von politischen Plakaten unter die Menschen. „Eine vom Aussterben bedrohte Art“, wie Handl seine Wahl des politischen Protests bezeichnet. Sein Platz ist hierbei die Straße, seine Dogmen lauten stets unparteiisch und autark zu bleiben. In der Vergangenheit wurden vor allem Wien und Montevideo von ihm plakatiert. Gegenwärtig zeigen sich nun auch in der Hansestadt Lübeck in Schleswig-Holstein seine Plakate an nahezu jeder Straßenecke. Lübeck ist die Heimatstadt seiner Tochter und seit August 2023 eine Szenerie seiner Kunst. Über 100 Litfaßsäulen wurden mit seinen knalligen Werken beklebt. Mit konfrontativen Aussagen bedruckt und teilweise fragwürdigen Motiven illustriert, erwecken sie Aufmerksamkeit und vor allem Irritation. Die Irritation, so Handl, sei sein Stilmittel der Wahl, um die Kognitionen der Menschen ins Rütteln zu bringen.

Patricio – Pato – Patografie

Patricio Handl bezeichnet sich selbst als „Patograf“, seine Werke nennt er „Patografien“. Der Begriff ist der Medizin entlehnt und bedeutet so viel wie „Darstellung von seelischen und körperlichen Anomalien“. Der oder die Angesprochene solle dadurch erkennen, dass seine*ihre Fremdenfeindlichkeit oder auch nur die Abwehr fremd-anmutender Mitmenschen etwas Unmoralisches, gar etwas Unnormales sei. Der Künstler erläutert zudem, dass in Argentinien der Name „Pato“ als gängiger Spitzname für „Patricio“ verwendet werde. Aus Pato, dem Grafiker fusioniert sich damit im Handumdrehen die Bezeichnung „Patograf“.

Von Apfel, Birne, Tomate, Mais und Kartoffel

So manch eine Person, die die letzten Wochen die Straßen Lübecks durchkreuzt hat, ist wohl an dem überdimensionalen Obst und Gemüse hängengeblieben, die einem bei der Betrachtung Handl’scher Plakate unmittelbar ins Auge springen. Aber warum diese Lebensmittel?

Patricio Handl erklärt, was es damit auf sich hat: „Das sind alles Pflanzen, die nicht aus Deutschland stammen, obwohl man die Deutschen mit der Kartoffel oder dem Apfel geradezu assoziiert.  Ursprünglich kommt die Kartoffel aber aus Südamerika, der Apfel aus Zentralasien. Vor Jahrhunderten haben sie sich in Deutschland verbreitet. Heutzutage sind sie so fest in der deutschen Kultur integriert, dass sich niemand mehr fragt, woher sie denn wirklich kämen. Sie sind für uns nicht mehr wegzudenken.“

„Gemeine Deutsche werden akzeptieren müssen, dass wir auch welche sind.“

Der Ausdruck „gemeine Deutsche“ taucht ebenfalls auf vielen seiner Patografien auf. Es ist ein Begriff mit zweierlei Bedeutung. In erster Linie ist damit der*die allgemeine Deutsche Bürger*in gemeint. In anderen Worten – Die Mehrheitsbevölkerung des Landes. Der Begriff „gemein“ kann aber gleichzeitig auch als Synonym für die Ausdrücke „fies“, „böse“ oder „garstig“ gedeutet werden. Ob auch das gelegentlich eine zutreffende Beschreibung sein könnte, darüber dürfen die Betrachtenden selber sinnieren.

Clevere Wortspiele, auffällige Symbole und Mehrdeutigkeiten sind Patricio Handls Markenzeichen. Sie locken geschickt in die Falle der Irritation und lassen seine Werke nach einem gewissen Prozess der Grübelei eher amüsant als provokant erscheinen.

Einladung zur Ausstellung

Unmittelbar an der Trave, dicht neben dem Holstentor, dem Wahrzeichen von Lübeck, hat der Pantograf eine kleine Ausstellung eröffnet. Jede*r, der*die sich nicht mehr weiter verwirren lassen möchte, ist herzlich eingeladen, vom 08.-17.09.2023 in der Kunsttankstelle Defacto Art in der Wallstraße Lübecks vorbeizuschauen. Von Montag-Freitag 16.00-19.00 Uhr, sowie am Wochenende von 13.00-18.00 Uhr stehen die Türen für alle Interessent*inn*en offen. Der Eintritt ist frei. Der Dialog erwünscht.

Ohne Kunst und Kultur wird’s still

Die Plakataktion sowie die Ausstellung sind übrigens ein Projekte des gemeinnützigen Vereins „Ohne Kunst und Kultur wird’s still e.V.“

Wer den Kontakt zum Künstler selbst sucht, hat am Freitag, den 15.09. um 17 Uhr die Chance an einer persönlichen Führung teilzunehmen. Wer hingegen weiter über den Tellerrand hinaussehen möchte, kommt am besten am Abend des Samstags den 16.09. oder des Sonntags den 17.09. vorbei. Denn dann mischen sich die Klänge verschiedener südamerikanischer Musikstile unter die bunten Plakate und ihre Betrachter*innen. Die Band Mr. Moe & Friends und der DJ Selecta Forrest sorgen im Garten der Galerie für zwei stimmungsvolle Abende, zu denen jede*r herzlich willkommen ist.


[3] https://de.statista.com/themen/4706/auslaender-und-migration-in-oesterreich/#topicOverview

Titelfoto: Plakat des Künstlers Patricio Handl im Lübecker Stadtraum. Foto: Alle Bilder dieses Beitrags sind Eigentum der Autorin.

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Über den Autor

Marie M.

ist eine angehende Psycholgie-Studentin aus Norddeutschland und im Rat der Stiftung "Gegen Extremismus und Gewalt in Heide und Umgebung" aktiv.

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