Ich war schon mehrmals in Paris. Zuerst mit meinen Eltern, später mit Freunden. Mal für einige Tage als Tourist die Sehenswürdigkeiten besichtigen, dann auf der Durchreise zu einer Radtour in die Bretagne. Jetzt im Frühling wäre es mal wieder Zeit für Paris. Deshalb lese ich den Artikel „Paris – Capitale de Refuge“ im We Refugees Archive. Die Seite ist keine Homepage für Tourist*innen, sondern ein Archiv über Geflüchtete zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen europäischen Städten, z.B. in Berlin, Vilnius, Palermo oder Paris.
Vor hundert Jahren
Zur „Hauptstadt der Zuflucht“ wurde Paris vor ziemlich genau hundert Jahren, in den 1920ern. Europa hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg sehr verändert. Große Vielvölkerstaaten wie das Russische Zarenreich, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich zerfielen in kleinere Nationalstaaten. Deren Geburtsstunden waren von gewalttätigen Konflikten geprägt, die viele Menschen zur Flucht trieb. Unter den westeuropäischen Staaten war es damals Frankreich, das seine Tore am weitesten für Geflüchtete öffnete.
Arbeitskräfte gesucht
Dies geschah nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit. Frankreich brauchte Arbeitskräfte, um die nach dem Ersten Weltkrieg daniederliegende Wirtschaft wieder anzukurbeln und aufzubauen. Frankreich und besonders die Hauptstadt Paris zogen die unterschiedlichsten Gruppen von Einwanderern an, z.B. jiddischsprechende Migrant*innen und Geflüchtete aus Osteuropa, staatenlose armenische Geflüchtete, russische Migrant*innen, sephardische Jüdinnen und Juden aus Nordafrika und dem zerfallenden Osmanischen Reich, außerdem politische Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen aus Italien, Belgien, Spanien und Polen.
Flucht aus Deutschland
Von heute aus gesehen war die Einwanderung nach Frankreich und Paris in den 1920er Jahren nur ein Vorgeschmack von dem, was in den 1930er Jahren geschehen sollte. Mit der Machtübertragung an Hitler in Deutschland am 30. Januar 1933 wurde der Antisemitismus in Deutschland staatstragend. Dem Staatsterror, der von Anfang an alle Gegner*innen Hitlers treffen konnte, entzogen sich viele durch Flucht ins Nachbarland Frankreich. Unter den Geflüchteten der 1930er Jahre waren viele Literat*innen und Intellektuelle, wie z.B. Hannah Arendt, die in Paris für mehrere jüdische Hilfsorganisationen arbeitete. Der Name des Archivs “We Refugees” ist von ihrem gleichnamigem Artikel aus dem Jahr 1943 inspiriert. Im We Refugees Archive finde ich neben vielen anderen Texten und Quellen auch einen Film über Hannah Arendts Jahre in Paris.
Hauptstadt des Antifaschismus
In den 1930er Jahren wird Paris innerhalb kürzester Zeit zur Hauptstadt des Antifaschismus. Exilverlage bieten den geflüchteten deutschen Literat*innen neue Publikationsmöglichkeiten. Die Geflüchteten der 1930er Jahre konnten auf die schon in den 1920er Jahren aufgebaute Infrastruktur von Hilfsorganisationen zählen, die den verschiedenen Gruppen zur Seite sprangen und auch Anlaufstelle für Geflüchtete waren, um sich politisch zu organisieren.
Das Ende der Stadt der Zuflucht
Im September 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen und der darauffolgenden Kriegserklärung von Großbritannien und Frankreich an Deutschland war Paris nicht länger die Stadt der Zuflucht. Geflüchtete aus Deutschland wurden nun als „feindliche Ausländer“ interniert. Und am 14. Juni 1940 zog die deutsche Wehrmacht in Paris ein. Der deutsch-französische Waffenstillstandsvertrag teilte Frankreich in einen deutsch-besetzten Norden und einen unbesetzten, aber kollaborierenden Süden mit Vichy als Sitz der französischen Regierung. Die Verfolgung von ausländischen und jüdischen Personen begann mit zwei sogenannten „Judenstatuten“, um Jüdinnen und Juden aus dem öffentlichen Leben auszuschließen, und gipfelte in den von der französischen Polizei und Verwaltung ausgeführten Deportationen von ausländischen und französischen Jüdinnen und Juden in die deutschen Vernichtungslager in den deutsch-besetzten polnischen Gebieten.