Auch wenn es jetzt gerade Frühling in Berlin wird, wäre es doch schön, in den Süden zu reisen, z.B. nach Sizilien. In Pandemie-Zeiten ist es schwierig, aber im Internet ist das z.B. auf der Seite We Refugees Archive möglich. Die Seite ist aber keine Homepage für Tourist*innen, sondern ein Archiv über Geflüchtete zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen europäischen Städten, z.B. in Berlin, Paris, Vilnius und eben in Palermo, das mich jetzt gerade interessiert.

Palermo 2015

Weit zurück in die Geschichte geht der Text über Palermo nicht. Wir sind im Jahr 2015, als viele Geflüchtete über das Mittelmeer nach Italien kommen. Während die italienische Regierung restriktiv gegen Geflüchtete vorgeht, deklariert sich Palermo im März 2015 zur „Stadt der Aufnahme“ und verabschiedet die Charta von Palermo. Damit bekennt sie sich zur Freizügigkeit als Menschenrecht. Sie fordert die Abschaffung von Aufenthaltsgenehmigungen in der Europäischen Union und eine grundlegende Neuausrichtung der europäischen Migrationspolitik. Es ist eine Grundsatzerklärung, die sich auch andere europäische Städte zum Vorbild nehmen, ein positiver menschenrechtlicher Ansatz in einer Zeit, als viele die Grenzen so dicht wie möglich machen wollen.

Nicht nur Worte

Es bleibt nicht nur bei der Erklärung. Der Bürgermeister Palermos und viele zivilgesellschaftliche Organisationen vor Ort gehen noch einen Schritt weiter. Sie rufen zum zivilen Widerstand gegen die italienische Regierung auf, vor allem gegen das italienische Sicherheitsdekret (decreto di sicurezza), das den Kommunen u.a. verbietet, einen Wohnsitz für Migrant*innen zu registrieren. Der Bürgermeister wies den Leiter des städtischen Einwohnermeldeamts an, das Dekret zu ignorieren. Andere italienische Städte folgten dem Beispiel Palermos.

Filme

Unter dem Haupttext zu Palermo findet man im We Refugees Archive schnell drei kurze Filme, in denen Geflüchtete von ihrem Weg über das Mittelmeer und ihren Aufenthalt in der Stadt sprechen. Entstanden sind die Filme im Rahmen eines Interviewprojekts mit Stadtspaziergängen, das We Refugees Archive im Sommer 2019 mit jungen Geflüchteten in Palermo durchgeführt hat. Sie schildern ein Palermo, das für sie nicht nur Zufluchtsort, sondern auch Zukunftsort werden könnte.

Eine Entdeckungsreise

Interessant ist, dass noch mehr Interviews und Dokumente angezeigt werden, sobald man dem Pfad zu den Filmen folgt. Ich finde einen Text, in dem Mustapha F. von seiner ersten Zeit in einem Aufnahmelager und seinen Erfahrungen der Aufnahme in Palermo erzählt. Der Text wird zuerst im italienischen Original angezeigt, aber es gibt auch eine Übersetzung. Ich entdecke weitere Fluchtgeschichten, aber auch ein Gedicht über das Meer als Fluchtort von Jehan Bseiso.

Ein wachsendes Archiv

Man kann im We Refugees Archiv viel Zeit verbringen und immer wieder Neues entdecken. Es ist ein wachsendes digitales Archiv zu Flucht in Vergangenheit und Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen individuelle Schicksale und der Mikrokosmos Stadt als Ort der Zuflucht und des Neuanfangs. Verantwortlich für das Archiv ist der Berliner Bildungsträger Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung. Der Name des Archivs „We Refugees“ ist von Hannah Arendts gleichnamigem Artikel aus dem Jahr 1943 inspiriert. 

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Über den Autor

Dennis R.

Dennis R. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

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