Über die Publikation „Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus Ost und West“

Derzeit erleben wir in Deutschland eine Welle großer Jubiläen wichtiger Ereignisse einer deutschen Vergangenheit. 2018 war die „68er-Bewegung“ fünfzig Jahre her. 2019 folgte 30-Jahre Mauerfall. Direkt im Jahr danach feierte das Land 30 Jahre deutsch-deutsche Wiedervereinigung.

Jubiläumsfeierlichkeiten und kollektives Erinnern

Jubiläen solch großer Transformationsmomente werden (nicht nur) in Deutschland umfangreich erinnert. Es gibt aufwändige Jubiläumsfeierlichkeiten in der Hauptstadt, die meist mehrere Tage andauern. Wissenschaftler*innen, Politiker*innen, Kulturschaffende, Künstler*innen und Autor*innen halten Reden und veröffentlichen neue Bücher. Sie eröffnen Sonderausstellungen zum jeweiligen Thema und entwickeln aufwändige Programme für Besucher*innen und Tourist*innen. Die Medien berichten häufig im Akkord. Es geht bei diesen Feierlichkeiten darum, uns kollektiv, also gemeinsam, an wichtige Momente einer Vergangenheit zu erinnern. Einer Vergangenheit, deren Auswirkungen wir heute in einer gemeinsamen Gegenwart erleben.

Doch gemeinsam bedeutet meist, dass sich hier nur bzw. fast nur die Mehrheitsgesellschaft Deutschlands wiederfindet. Die Mehrheitsgesellschaft erinnert sich kollektiv an die Erfahrungen dieser Mehrheitsgesellschaft. Marginalisierte, diskriminierungserfahrene und/oder migrantische Communities finden in dieser Erinnerung keinen oder kaum einen Platz. Gemeint sind beispielsweise schwarze Menschen, Indigene und People of Color (BIPoC) ebenso wie queer*feministische und subkulturelle Perspektiven. Ihr Einfluss und ihr Mitwirken auf und an Widerständen, Freiheitskämpfen, sozialen und politischen Kämpfen sowie am gesellschaftlichen Wandel wird heute in der Mehrheitsgesellschaft kaum erinnert. Diese Communities sind häufig verstummt und unsichtbar.

Labor 89

Die Publikation Labor 89, 2019 herausgegeben von Peggy Piesche beginnt diese Leerstellen, die sogenannten „weißen Flecken“, zu füllen. Das herrschende Narrativ wird pluralisiert. Es zu „stören“, wie es in der Einleitung heißt, um ihm neue Erinnerungen hinzuzufügen. Denn „Erinnerungskultur muss mehr als nur die Mehrheitsgesellschaft im Gedächtnis be(in)halten.“ (S.6)

Hierfür wählt die Herausgeberin einen intersektionalen Ansatz, der „[…] den Fokus auf marginalisierte kollektive Bewegungsgeschichte*n [legt], die bewusst ins Zentrum gerückt werden.“ (S.7) Nach Piesche können so nicht nur Überschneidungen und Gleichzeitigkeiten von Mehrfachdiskriminierung und -Unterdrückung herausgearbeitet werden. Sondern es können auch Mehrfachidentitäten und -Zugehörigkeiten aufgezeigt werden. Die Publikation fragt nach Begegnungen zwischen diskriminierungserfahrenen Communities in Ost- und Westdeutschland. Sie fragt nach ihrer Dynamik und Veränderungen vor und nach dem Mauerfall sowie nach kollektiven Zukunftsvorstellungen und -Wünschen.

Acht Akteur*innen aus unterschiedlichen Communities geben uns Einblick in ihre Erinnerungen und Geschichten aus der Zeit um den Mauerfall in Deutschland. Ihre Perspektiven sind intergenerational und feministisch. Daneben werden auch „[…] Orte, Ereignisse und Diskurse in den Vordergrund [gerückt], die in herrschenden Erinnerungskontexten in der Regel nicht präsent sind.“ (S.6)

Die Akteur*innen

Die Geschichten von Anita Awosusi, Angelika Nguyen, Katharina Oguntoye, Samrirah Kenawi, Sun-Ju Choi, Jeanette Sumalgy, Nuran Ayten und Ina Röder Sissoko stehen im Mittelpunkt des Buches. Es werden jeweils eine Ost- und eine Westerzählung gegenübergestellt. Das eingeschobene Kapitel „Bewegungsmomente“ in der Mitte des Buches. Es zeigt Fotografien, Plakate, Demonstrationsaufrufe und Dokumente aus feministischen und antirassistischen Bewegungen in Ost und West. Die Einzelkapitel bilden Piesche nach Reflexionsräume, in denen die unterschiedlichen Erfahrungen um den Mauerfall beleuchtet und neu erzählt werden können.

Bei den Geschichten der Akteur*innen stehen rassistische, sexistische und diskriminierende Erfahrungen im Fokus. Ebenso wie der Kampf um Selbstermächtigung, Selbstbestimmung sowie Gehör und Sichtbarkeit. Ihre Erlebnisse, ihr Engagement und ihre empowernden Erfahrungen zeigen historische Ereignisse und Debatten auf. Sie bilden aber auch die Möglichkeiten und Grenzen politischer Beteiligung mit Fokus auf das Jahr 1989 ab. So entstehen hier neue Perspektiven und Narrative. Die Gegenüberstellung von Ost- und Westbiografien ermöglicht zudem eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen und dem Umgang mit gesellschaftlichen Marginalisierungen. Es ist eine Auseinandersetzung, die sich nicht mehrheitsgesellschaftlich mit der DDR und Westdeutschland beschäftigt. Die Publikation schafft neue Erinnerungsräume. In ihr sind Geschichten diskriminierungserfahrener Communities verschriftlicht. Die Erfahrungen der Communities werden darin festgehalten und als Teil einer kollektiveren, diverseren Gesellschaft weitergegeben.

Peggy Piesche (Hg.) | Nicola Lauré al-Samarai (Hauptautorin)
Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost

erschienen im Verlag Yılmaz-Günay
144 Seiten, 15,00 €
ISBN-13: 978-3-9817227-3-4
1. Auflage 30. Januar 2020

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Über den Autor

Svenja Heissner

hat Geschichtswissenschaften und Internationale Literatur an der Universität Tübingen und Public History an der Freien Universität Berlin studiert. Sie arbeitet seit Anfang Januar 2021 als Community Managerin der European Digital UniverCity an der Universität Potsdam. Sie ist zuständig für Kommunikation und Veranstaltungen sowie für den Outreach des Projektes. Sie ist außerdem Coach im Projekt #BeInterNett des Vereins Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. und gibt dort Workshops zum Umgang mit Hatespeech.

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