„Er ist zwar gut zu Fuß, aber eingewandert ist er dennoch nicht“ so beginnt die Biografie des bekannten Grünen-Politikers und Bundesministers Cem Özdemir auf seiner Homepage. Seit der Bundestagswahl 1994 gilt Özdemir als erstes Mitglied des deutschen Parlaments mit Migrationsgeschichte. Die Eltern stammen aus der Türkei, er selbst ist im schwäbischen Bad Urach aufgewachsen. Auf seine türkischen Wurzeln wird er seit Beginn seiner politischen Karriere immer wieder angesprochen. Er selbst nimmt manche pauschale Zuschreibungen mit Humor und hebt dagegen gerne seine schwäbische Sozialisation hervor.
Cem Özdemir: „Gastarbeiterkind“ und Schwabe
Geboren 1965 im Kreis Reutlingen sei seine eigentliche Muttersprache Schwäbisch. Dann kommt Hochdeutsch. Türkisch habe er jahrelang nur gebrochen beherrscht. Dabei gehört Cem Özdemir zur zweiten Generation der nach Deutschland eingewanderten türkischen Gastarbeiter:innen in den 1960er Jahren. Sein Vater stammt aus der Region Tokat, seine Mutter aus der türkischen Großstadt Istanbul.
In der Schule habe er es aufgrund seiner Herkunft zunächst nicht leicht gehabt, meint Özdemir. Wie andere Gastarbeiterkinder konnte er mit den autochthonen Mitschüler:innen aus gutbürgerlichem, deutschem Elternhaus zunächst nicht mithalten. Aufgrund der Sprachbarrieren seiner Eltern war Nachhilfe bei den Hausaufgaben zuhause beispielsweise nicht möglich. Glücklicherweise sei es in seinem Heimatort aber selbstverständlich gewesen, dass man sich in der Nachbarschaft und unter Freund:innen aushilft – gleich welcher Herkunft.
Einbürgerung und politische Anfänge
Im Jugendalter begann Cem Özdemir sich politisch zu engagieren. Bereits 1981 trat er der Partei Die Grünen bei. Möglich war ihm das aber nur, weil er sich mit 16 Jahren für eine Einbürgerung in Deutschland entschieden hatte. Nach dem geltenden Optionsgesetz hatte das die Aufgabe der türkischen Staatsbürgerschaft zur Folge. Eine Entscheidung, der seine Eltern eher skeptisch gegenüberstanden. Für Cem Özdemir bedeutete es aber, als Volljähriger in seinem Land wählen zu dürfen sowie die Wehrpflicht im Herkunftsland seiner Eltern zu umgehen.
Deutsch-türkische Themen, die alle etwas angehen
1994 schloss er sein Studium der Sozialpädagogik in Reutlingen ab. Im selben Jahr wurde er als erster Politiker mit ausländischen Wurzeln in den Bundestag gewählt. Neben grünen Themen macht er sich vor allem für Bereiche der Völkerverständigung stark. In diesem Zusammenhang stehen auch außen- und sicherheitspolitische Debatten. Ein Fokus Özdemirs liegt auf deutscher Politik gegenüber dem Herkunftsland seiner Eltern.
Unter anderem in der Debatte um die Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel im Jahr 2017 in der Türkei trat Cem Özdemir als lautstarker Gegner Erdogans auf. Aber auch in den Jahren zuvor beteiligte er sich an mehreren Protestaktionen, die den türkischen Staatschef scharf kritisierten. Bis heute warnt er wiederholt vor dem bedrohlichen Einfluss der türkischen Regierung auch in Deutschland. Dabei betont Özdemir stets, dass Maßnahmen gegen autoritäre Regime sich nicht gegen die Einwohner:innen eines Landes richten dürfen. Von daher sind neben direkten Botschaften ins Ausland, Maßnahmen im Inland, unter anderem Aufklärung, ein wichtiges Anliegen Özdemirs. Ende der 1990er und in den 2000er Jahren erschienen unter anderem drei von ihm verfasste Bücher zu der Türkei und deutscher Integrationspolitik.
Grüne Politik
Dabei sind es nicht nur Themen der Migration und Integration, die ihn beschäftigen. Seit Beginn seines politischen Engagements macht sich Cem Özdemir für Umweltschutz stark. Heute ist er Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Für gesündere Ernährung, unter anderem bewussten, qualitativ hochwertigeren Fleischkonsum, setzt sich der überzeugte Vegetarier schon seit Jahren ein. Auch in der Debatte um eine Legalisierung von Cannabis plädierte der Grünen-Politiker für einen bewussten, legalen Konsum statt stoischer Kriminalisierung der Konsument:innen. Im Jahr 2014 ließ er sich vom Deutschen Brauereibund zum „Botschafter des Bieres 2014“ küren. Zum feierlichen Anlass warb eine Berliner Brauerei aktionsweise mit dem „Özdebier“.
Cem Özdemir als Vorbild
Wie sein eigener Internetauftritt zeigt, ist Cem Özdemir mehr als nur ein passives Aushängeschild, das für mehr Integration aus den Reihen der Grünen werben soll. Dass er vielen als Vorbild und Identifikationsfigur dienen kann, scheint ihm bewusst zu sein. Er selbst präsentiert sich als „Anatolischer Schwabe“. Nur die Rückschlüsse, die aus seiner Herkunft im Hinblick auf die eigene Karriere gezogen werden, muss er manchmal korrigieren.
Ob er denn nicht geradezu den American Dream symbolisiere und aufzeige, dass es (auch) hier in Deutschland jede:r – gleich welcher Abstammung – schaffen könne erfolgreiche Karriere zu machen, wurde Cem Özdemir 2011 in einem Interview mit der FAZ gefragt. Diese Frage konnte Özdemir nur sehr eingeschränkt bejahen. Denn es stimmt, dass manchmal mehr möglich ist als es scheint. Allerdings sei Deutschland noch weit vom American Dream entfernt.
Plädoyer für gerechte Strukturen
Was fehle seien entsprechende bildungspolitische Strukturen, die Kindern aus migrantischen Familien und bildungsfernen Haushalten echte Chancengleichheit gewähren. Wie viele hätten zum Beispiel nicht die Möglichkeit, Nachhilfe bei Eltern von Freund:innen zu erhalten. Auch im Bereich Einbürgerungschancen und Wahlrecht äußerte sich Cem Özdemir in der Vergangenheit mehrmals kritisch. Wer Verbundenheit und Zugehörigkeit mit einem Staat spüren möchte, sollte auch rechtlich gleichgestellt sein. Schließlich sei es weniger eine deutsche Leitkultur als ein Bekenntnis zum deutschen Rechtsstaat mit seinem Grundgesetz, das aus Bürger:innen in Deutschland Deutsche mache.
Aktuelle Fragen
Seit 2011 hat sich in der Integrationspolitik Deutschlands einiges geändert. 2014 wurde die Optionspflicht für in Deutschland aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern abgeschafft. Das heißt, dass sie bei einer Einbürgerung nicht auf die ausländische Staatsbürgerschaft verzichten müssen. Bei Nachweis einer engen Bindung an Deutschland ist auch eine Einbürgerung in ein anderes Land bei Beibehaltung der deutschen Staatsbürgerschaft möglich. Als Regelfall gilt die doppelte Staatsbürgerschaft bislang jedoch nicht.
2024 soll sich dies ändern. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde dazu bereits im August 2023 von der Bundesregierung beschlossen. Laut dessen soll unter anderem die Mehrstaatigkeit (nicht nur in Ausnahmefällen) gestattet sein, sowie Hürden für eine Einbürgerung verkleinert werden. Eine Abschlussabstimmung im Bundestag und die folgende Verabschiedung des Gesetzes stehen noch aus.
Cem Özdemir als „Patriot durch Anerkennung“
Sollte es soweit kommen und die Optionspflicht nach und nach abgeschafft werden, haben weit mehr Menschen in Deutschland auch ein Recht auf politische Teilhabe außerhalb ihrer Kommunen. Nach dem selbsterklärten „Inländer“ Cem Özdemir wächst mit der Anerkennung die Chance auf einen friedlichen Verfassungs-Patriotismus. Solange Religion und unterschiedliche kulturelle Werte nicht über das Grundgesetz gestellt würden, müssen sie nämlich nicht im Widerspruch zueinander stehen. Ähnlich verhalte es sich mit mehreren parallelen Staatsangehörigkeiten:
„Nicht durch eine doppelte Staatsangehörigkeit geraten sie [Menschen mit diversem Hintergrund] in einen Loyalitäts- oder Identitätskonflikt, sondern erst durch den Zwang, sich für eine Seite entscheiden zu müssen.“
Cem Özdemir in der FAZ am 22.05.2009
Titelbild: Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen), Bundesminister für Landwirtschaft und Ernährung, besucht zwei Bäckereibetriebe in seiner Geburtsstadt Bad Urach in Baden-Württemberg und hat sich dafür ausgesprochen, die Tradition des handwerklichen Brezelbackens als immaterielles Kulturerbe anzuerkennen.25.08.2022 © BMEL/Photothek
Quellen
https://www.oezdemir.de/cem/biografie/.
https://www.oezdemir.de/themen/patriot-durch-anerkennung/.
Cem Özdemir im Interview mit der FAZ, 07/2011: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/cem-oezdemir-die-ersten-kopftuecher-sah-ich-in-schwaben-11112659.html.
Cem Özdemir im Interview mit Deutschlandfunk Nova, 09/2017: https://www.youtube.com/watch?v=xNrW-mrl7CI.
Cem Özdemir im Interview mit der Frauenhofer-Gesellschaft, 01/2022: https://www.fraunhofer.de/de/forschung/aktuelles-aus-der-forschung/so-schmeckt-die-zukunft/interview-mit-cem-oezdemir.html.
Cem Özdemir im Interview mit der taz futurzwei, 09/2023: https://taz.de/Interview-mit-Cem-Oezdemir/!5842467/.
Rede im Bundestag zum verhalten der Bundesregierung im Fall Deniz Yücel, 22/02/2018: https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7203273#url=bWVkaWF0aGVrb3ZlcmxheT92aWRlb2lkPTcyMDMyNzMmdmlkZW9pZD03MjAzMjcz&mod=mediathek.
https://www.auswaertiges-amt.de/de/staatsangehoerigkeitsrecht/2088844.
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/08/staatsangehoerigkeit-pm.html.