Ein Viertel der Menschen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Es ist keine kleine Minderheit, über die wir reden; Migration ist alltäglich. Und doch ist bislang noch zu wenig über die Geschichte von Migration in und nach Deutschland bekannt.
Die lokale Spurensuche kann das ändern. Sie kann zeigen, dass Migration schon immer da und dass es normal ist, dass Menschen kommen, bleiben und gehen.

Die gemeinsame Publikation Auf den Spuren von Migration in Wolfsburg von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation der Stadt Wolfsburg bietet praktische Anregungen zur lokale Spurensuche zur Migrationsgeschichte, illustriert mit Projektbeispielen aus Wolfsburg. Die Broschüre gibt praktische Ideen und Impulse, für die Umsetzung einer eigenen Suche nach Spuren der Migration vor Ort.

Die Migrationsgeschichte Wolfsburgs

Zeitstrahl zur Zuwanderungsgeschichte nach Wolfsburg. Abbildung aus der Publikation, S. 24.

Zuwanderung ist ein wesentlicher Faktor der Wolfsburger Stadtgeschichte. Mit der Gründung der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ 1938, setzte ein rascher Zuzug aus allen Teilen des sogenannten Dritten Reiches ein – und darüber hinaus. Familien aus allen Himmelsrichtungen des „Deutschen Reiches“ kamen in die werdende proklamierte NS-Musterstadt. Daneben zogen ab September 1938 auch tausende Arbeiter der Confederazione Fascista dei Lavoratori dell’Industria (CFLI), der faschistischen Schwesterorganisation der Deutschen Arbeitsfront (DAF) in Italien, in das Gemeinschaftslager der Stadt ein. Waren diese freiwillig in die „Stadt des KdF-Wagens“ gekommen, so galt dies in keinster Weise für all die zwangsverpflichteten Zivilarbeiter, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge. Sie kamen im Zuge der „Eingliederung des Volkswagenwerkes in die Rüstungswirtschaft“ und dem damit einhergehenden entstehenden „betriebliche[n] System der Zwangsarbeit“ in die Stadt. Zwangsarbeiter:innen waren widrigsten Arbeits- und Lebensbedingungen ausgesetzt. 

Zuwanderung nach Wolfsburg nach Ende des Zweiten Weltkrieges

Nach Ende des Krieges setzte erneut ein Wachstum der Stadt ein. Für ungezählte Kriegsheimkehrer, Displaced Persons und Heimatvertriebene war Wolfsburg eine Zwischenstation auf dem Rückweg in die alte Heimat oder auf der Suche nach einer neuen. Besonders nachdem das Wachstum des Volkswagenwerks in den späten 1940er Jahren Fahrt aufgenommen hatte, entschlossen sich aber auch viele, dauerhaft zu bleiben. in den 1950er und 1960er Jahren bestand Wolfsburgs Bürgerschaft mitunter zu mehr als vierzig Prozent aus sogenannten Heimatvertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten.

Ab 1962 wurde Wolfsburg eines der Zentren der italienischen Einwanderung mit dem Hauptwerk des Autoherstellers Volkswagen AG. Der Zuzug angeworbener italienischen „Gastarbeiter“, ließ Wolfsburg zur „größten Italienersiedlung nördlich des Brenner[s]“ werden. In den folgenden Jahren kamen Zuwanderungsgruppen in unterschiedlich großer Zahl nach Wolfsburg. Familien von „Gastarbeitern“ aus Tunesien und dem ehemaligen Jugoslawien, Spätaussiedler aus Russland oder Kasachstan, Geflüchtete aus Syrien, mexikanische Studierende der Fachhochschule Ostfalia in Wolfenbüttel. Heute leben in Wolfsburg 151 Nationen. Von den rund 125.400 Einwohnern Wolfsburgs haben 48.600 eine Zuwanderungsgeschichte.

Was ist eigentlich Lokale Spurensuche?

Die Methode der lokalen Spurensuche selbst ist nicht neu. Seit mehreren Jahrzehnten gehen Spurensuchende unter dem Motto »Grabe, wo du stehst« auf Erkundungstouren. Besonders populär war und ist die Spurensuche in den Geschichtswerkstätten.
Die Geschichtswerkstätten, die in den 1980er-Jahren entstanden, verfolgen folgenden Ansatz: Um Geschichte zu erforschen, muss man kein:e Historiker:in sein. Lokale Spurensuche bedeutet daher: Es ist das interessant, was vor der eigenen Haustür passiert ist, etwa Alltags- und
Familiengeschichte.

Um einen pädagogischen Begriff zu nutzen: Die lokale Spurensuche stellt einen Bezug zum Lebensraum des Forschenden her, um Geschichte nah- und erfahrbar zu machen. Lebensraum ist der Radius einer Person, in dem sich diese auskennt und sicher bewegt. Konkret bedeutet das, dass etwa Familie, Freund:innen und Nachbar:innen sowie lokale Archive und Vereine erste Ansprechpersonen werden. Diese Nähe hat den Vorteil, dass oft schon Kontakte bestehen oder
schnell geknüpft werden können. So können Treffen und Gespräche unkompliziert organisiert werden.

Passend dazu steht oft die Oral History im Mittelpunkt der Spurensuche: Mit Personen und Zeitzeug:innen vor Ort werden Interviews geführt.


In der Begrenzung auf das Lokale unterscheidet sich die Spurensuche bewusst von überregionaler, bundesdeutscher oder gar europäischer oder globaler Geschichte. Natürlich sind große Zusammenhänge wichtig, insbesondere die Verbindung von lokaler zur »großen« Geschichte kann
helfen, Zusammenhänge besser zu verstehen. Welche Folgen hatte beispielsweise der Beschluss im Reichstag für das Dorf XY? Was änderte sich in der Gemeinde vor Ort nach dem Abschluss von Abkommen? So hat die Geschichte vor der Haustür den Vorteil, dass sie oft anschlussfähiger ist.

Wer sich mit Migrationsgeschichte beschäftigt, lernt etwas über diejenigen, die hinzu- oder fortgezogen sind. Über ihre Gründe, ihre Hoffnungen und Erwartungen, ihr weiteres Leben. Ebenso viel lernt man auch über diejenigen, die geblieben sind; darüber, wie sie auf neue Menschen reagierten, wie sich ihre Gemeinschaft veränderte, was für Kontakte aufgebaut wurden.

Inhalte der Publikation „Auf den Spuren von Migration in Wolfsburg“

Die Broschüre ist in mehrere Abschnitte geteilt: Nach dieser Einleitung gibt es zunächst eine Einführung in die Methode der lokalen Spurensuche und einen Einblick in Migrationsgeschichte.
Daraufhin werden die Fragen vorgestellt, die für ein Projekt vor Ort richtungsgebend sein können. Es folgen verschiedene Methoden, mit denen lokale Migrationsgeschichte erforscht und dargestellt werden kann. Die vorgestellten Methoden vor Ort sind:

  • Zeitstrahl
  • Warum Migration?
  • Oral History
  • Audiowalk
  • Ausstellung

Zu diesen Methoden gibt es einzelne Projektbeispiele und Erfahrungsberichte aus Wolfsburg. Zu guter Letzt folgt eine Sammlung von Links, Literatur und anderen Tipps für eine gelungene Umsetzung.

Wie und wo ist die Publikation erhältlich?

Titelblatt der Handreichung


Die Handreichung richtet sich an Fachkräfte der historisch-politischen Bildung, regionale Museen, Geschichtsvereine sowie an alle anderweitig Interessierten. 

Bei Interesse kann die Handreichung in unserer Geschäftsstelle kostenfrei bestellt oder hier heruntergeladen werden.



SPOILERALARM: Die nächste Spurensuche geht aufs Land

Die Spurensuche zur Migrationsgeschichte in Wolfsburg ist die erste von zwei Handreichungen. Aktuell erproben wir in Ostdeutschland, wie dort Spuren der lokalen Migrationsgeschichte gut und sinnvoll gesucht und dargestellt werden können. Denn in Ostdeutschland unterscheiden sich die Zu- und Abwanderungsprozesse mitunter von denen in Westdeutschland. Gemeinsam mit dem Heimatmuseum der Stadt Strasburg (Uckermark) und dem Uckermärkischen Heimatkreis Strasburg e.V. haben wir uns auf die Spuren der Migration in der Stadt Strasburg in der Uckermark begeben. Die Publikation erscheint Anfang 2024.

Und wann startet Ihr Euer eigenes Spurensuche-Projekt zur Migrationsgeschichte?

Über den Autor

SEITEN:BLICK

arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. Der Begriff SEITEN:BLICK steht für die Blicke, die wir links, rechts und hinter "die Dinge" werfen wollen.

Alle Artikel anzeigen