Trotz des vergleichsweise jungen Alters haben sich Computerspiele fest etabliert in der Unterhaltungsbranche. Doch vor allem in den letzten Jahrzehnten hat die Computerspielindustrie gezeigt, das sie nicht nur unterhalten können, sondern ein großes Potenzial für die Bildung haben. Dazu gehören unter anderem Lernspiele für Kinder und Jugendliche, Strategie-, Abenteuer- oder Kriegsspiele mit historischen oder politischen Bezügen oder sogenannte Serious Games, Computerspielen, die neben dem Spielspaß auch einen ernsthaften Inhalt vermitteln.

Auch die Themen Flucht und Migration gehören zu den ernsthaften Inhalten, mit denen sich vor allem die Serious Games beschäftigen. Es ist ein Feld, auf dem sich viel getan hat in den letzten Jahren und an das sich doch nur wenige rantrauen.

Vermittlung in Computerspielen

Vermittlung funktioniert in Computerspielen erst mal recht klassisch über Videoclips, Zwischensequenzen, Bilder und kurze Texte entweder zum Spielgeschehen oder den Regeln des Spiels. Auch die Spielmechanik an sich trägt zur Informationsvermittlung bei. Besonders an Computerspielen ist jedoch die Interaktivität der Handlung. Die Spiele erfordern, dass die Spieler*innen aktiv in das Spielgeschehen eingreifen, um die Inhalte vermittelt zu bekommen und erleben zu können. Wobei der Einfluss der Spieler*innen auf das Spielgeschehen natürlich immer abhängig davon ist, welche Handlungsmöglichkeiten ihnen vom Spiel zur Verfügung gestellt werden und von deren Konsequenzen.

Potenziale und Problematiken

Durch die Interaktivität, also die aktive Einbindung der Spieler*innen in die Handlung, eignen sich laut Eric Jannot Spiele besonders gut, um komplexe und ernste Themen zu behandeln. Sie haben das Potenzial …

„ […] dass man Handlungsräume erkunden kann, Konsequenzen erleben kann und dadurch Zusammenhänge einfach besser begreifen kann, zwischen verschiedenen Faktoren, die eben zu Flucht führen. Und auch gleichzeitig die Konsequenzen für Individuen auch wirklich erlebbar machen können. Und das ist eine Stärke, die durch diese Interaktivität nur das Medium Spiel bieten kann.“

Eric Jannot (Professor für Gamedesign an der University of Applied Sciences Europe und Geschäftsführer von Waza Games)

In Spielen mit einem realen inhaltlichen Bezug besteht das Potenzial, das im Spielverlauf gewonnene Erfahrungen und Eindrücke auch die das Thema betreffenden Ansichten der Spieler*innen im echten Leben beeinflussen. Computerspiele können so zur kritischen Reflektion realer Themen anregen. Der Spieleentwickler und Theoretiker Ian Bogost entwickelte den Begriff „prozedurale Rhetorik“, um das Phänomen zu beschreiben, dass die Regeln oder Spielmechaniken dafür genutzt werden, um in digitaler Form bestimmte Positionen oder Ansichten zu vermitteln. Dies kann sowohl problematisch sein, wie im Fall von Propaganda und Fehlinformation als auch einen positiven Nutzen in der Bildungsarbeit haben.

Computerspiele können es den Spieler*innen außerdem ermöglichen, ein großes Spektrum an ästhetischen oder emotionalen Erfahrungen zu machen. Denn neben faktischen Informationen können auch emotionale Aspekte zum Thema Flucht und Migration vermittelt werden. Durch die Spielmechanik kann Empathie erzeugt werden, beispielsweise durch das Hineinversetzen in die Lage der Spielfiguren. Eine solche Identifikation kann verschiedene Reaktionen hervorrufen, wie Stress, Trauer, Anspannung oder Wut. Einerseits kann das entstehende Mitgefühl dabei helfen, auch im echten Leben Geflüchteten und Menschen mit einer Migrationsgeschichte mehr Mitgefühl und Verständnis entgegenzubringen. Andererseits ist Vorsicht geboten, um vor allem junge Spieler*innen nicht zu überfordern. Siehe der Beutelsbacher Konsens und das (digitale) Spiel.

Es besteht zudem die Gefahr, dass durch den Entertainment-Charakter von Computerspielen und das bisherige Spielverhalten der Konsument*innen, die Inhalte nicht ernst genommen werden. Daraus könnte eine potenzielle Desensibilisierung statt einer Sensibilisierung für das Thema resultieren. Auch deshalb ist es besonders wichtig, dass man Spiele, die sich mit Flucht und ihren Konsequenzen beschäftigen, auch über das Spiel hinaus kontextualisiert. Auch das die Darstellungen in Computerspielen stilisiert sind und zu einem essenziellen Teil auf den Erfahrungen und Vorstellungen der Spieleentwickler*innen beruhen, sollte kontextualisiert werden.

Beispiele – Serious Games

„Bury Me, My Love“

Thema: 21. Jahrhundert, Flucht und Migration

Genre: Adventure

Erscheinungsjahr: 2017

Entwickler: ARTE France / Figs / The Pixel Hunt (Frankreich)

In „Bury Me, My Love“ können Spieler*innen über einen simulierten Messenger die Nachrichten zwischen dem Ehepaar Nour und Majd mitverfolgen. Durch die Konversation der beiden erlebt man die gefährliche Flucht durch Europa mit, auf der Nour sich befindet. Ihr Ehemann ist in Syrien und bangt um das Leben seiner Liebsten. Der Fokus des Spiels liegt auf der Vermittlung der Unsicherheit und der Angst, der sie ausgesetzt sind. Außerdem verdeutlicht es, wie wichtig die Unterstützung und der Beistand von Freunden und Verwandten für die Fliehenden ist und dementsprechend wie essenziell deshalb auch Smartphones auf der Flucht sind.

„Bury Me, My Love“ liefert wichtige Einblicke in die Gefühlswelt und Erfahrungen von Menschen auf der Flucht und erörtert die Fluchtgründe und Hürden, die sie überwinden mussten.

Weiter Informationen und eine ausführliche Einordnung des Spiels finden Sie hier.

„Path Out“

Thema: 21. Jahrhundert, Flucht und Migration

Genre: Adventure

Erscheinungsjahr: 2017

Entwickler: Causa Creations (Österreich), Jack Gutmann

„Path Out“ ist ein autobiografisches Spiel, welches zum großen Teil auf den Fluchterlebnissen von Jack Gutmann sowie anderen aus Syrien geflüchteten Menschen basiert. Spieler*innen werden mit den Herausforderungen einer Flucht konfrontiert, während sie mit Jack auf der Flucht aus Syrien sind. Im Verlauf des Spiels müssen sie gefährliche Situationen überstehen und Rätsel lösen, um sich in Sicherheit zu bringen. Jack Gutmann selber erscheint immer wieder in Form von Videobotschaften, welche das Spielgeschehen einordnen und kommentieren. So ist das Spiel eng mit der realen Erfahrung verknüpft.

Ziel des Spiels ist es, die Herausforderungen zu zeigen, mit denen Menschen auf der Flucht konfrontiert sind und wie komplex und einzigartig ihre Geschichten sind.

Weiter Informationen und eine ausführliche Einordnung des Spiels finden Sie hier.

„Papers, please“

Thema: DDR, Flucht und Migration, Kalter Krieg, Politische Radikalisierung

Genre: Adventure, Simulator

Erscheinungsjahr: 2013

Entwickler: Lucas Pope (USA / Japan)

Im Indieprojekt „Papers, please“ des Gamedesigners Lucas Pope übernehmen Spieler*innen die Rolle eines Grenzbeamten des fiktiven, totalitären Ostblockstaats Arstotzka. Man kontrolliert Papiere, vergleicht Ausweisfotos, sorgt für Sicherheit, stempelt Pässe ab und entscheidet so über das Schicksal der Reisenden. Unterbrochen wird die Akkordarbeit durch die Geschichten der Reisenden und durch Zeitungsberichterstattungen. Am Ende des Arbeitstages erhält man sein Gehalt. Die Höhe ist davon abhängig, wie viele Menschen abgefertigt wurden und wie viele Fehler man dabei gemacht hat. Das Einkommen des Grenzbeamten verrechnet das Spiel dann mit den Lebenskosten einer fünfköpfigen Familie. Macht man seinen Job also nicht schnell oder gründlich genug, hat das fatale Konsequenzen für die Familie des Grenzbeamten. Dies ist nur eine der 20 mögliche Enden des Spiels.

„Papers, please“ konfrontiert Spieler*innen mit „ethischen Handlungsdilemmata zwischen Grenzschutz, den (Flucht-)Biographien derjenigen, die einreisen möchten, sowie der Sicherung des eigenen Überlebens und des Überlebens der Familie„.

Weiter Informationen und eine ausführliche Einordnung des Spiels finden Sie hier.

„Glasfäden“

Thema: 21. Jahrhundert, DDR, Flucht und Migration

Genre: interaktiver Comic, Point-and-click

Erscheinungsjahr: 2022

Entwickler: Causa Creations (Deutschland)

Der interaktive Comic „Glasfäden“ erzählt von den Auswirkungen der friedlichen Revolution in der DDR aus Sicht der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen. Multimedial wird die Handlung durch Fotos, Videointerviews und persönliche Erzählungen begleitet. Sie verdeutlichen die Bedeutung der Thematik für die deutsche Migrationsgeschichte bis heute.

Den Rahmen des interaktiven Comics bildet die Erzählung einer jungen Viet-Deutschen über die Migrationsgeschichte ihrer Mutter. So entsteht eine Familiengeschichte über mehrere Generationen, die sich unter anderem mit der Beziehung zwischen Mutter und Tochter sowie mit Verständnis und Zusammenhalt trotz intergenerationaler Differenzen beschäftigt. In den fünf Kapiteln der Geschichte werden Themen angesprochen wie: Das politische System der sozialistischen Staaten und der Zusammenhang zur Arbeitsmigration in die DDR. Die friedliche Revolution und die darauf folgende Unsicherheit, Rassismus und das Streben nach finanzieller Sicherheit und sozialem Aufstieg.

Weiter Informationen und eine ausführliche Einordnung des Spiels finden Sie hier.

Die Entwicklung von Computerspielen zum Thema Flucht und Migration erfordert ein hohes Maß an Feingefühl sowie politisches, historisches und didaktisches Wissen. Es ist ein Drahtseilakt, den sich nicht viele zutrauen. Und das trotz des wichtigen Beitrags zum gesellschaftlichen Dialog, den Computerspiele leisten könnten und ihrem Potenzial Empathie zu fördern und neue Perspektiven zu eröffnen.

Quellen:
https://www.deutschlandfunk.de/flucht-und-migration-in-computerspielen-wir-sind-alle-100.html
https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/grenzerfahrungen-digitale-spiele-und-flucht/
https://www.unhcr.org/dach/de/pathout
https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/spiele-erinnerungskultur/glasfaeden/
https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/spiele-erinnerungskultur/path-out/
https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/spiele-erinnerungskultur/papers-please/
https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/spiele-erinnerungskultur/bury-me-my-love/
https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/digitale-spielekultur/last-exit-flucht-verstehen-durch-digitales-spiel/
https://www.bpb.de/themen/kultur/digitale-spiele/504550/lernen-mit-digitalen-spielen-im-unterricht/#node-content-title-0
Titelbild: pixabay (Danneiva)
Bild 1: pixabay (3rdmuffin)
Bild 2: Titelbild von „Bury Me, My Love“, ©ARTE France / Figs / The Pixel Hunt
Bild 3: Titelbild von „Path Out“, ©Causa Creations/ Jack Gutmann
Bild 4: Titelbild von „Papers, please“, ©Lucas Pope
Bild 5: Titelbild von „Glasfäden“, ©Causa Creations
Bild 6: pixabay (Mizter_X94)