Heute jähren sich zum 30. Mal die Bandanschläge auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser im schleswig-holsteinischen Mölln. Wir sprachen mit Ibrahim Arslan, er ist Opfer und Überlebender der rassistischen Brandanschläge 1992.
Ibrahim, Du hast die rassistischen Brandanschläge in Mölln als 7-Jähriger überlebt. Wie hast Du das geschafft?
In der Nacht vom 22. auf den 23. November 1992 zündeten zwei Neo-Nazis unser Haus in der Mühlenstraße 9 an. Meine Schwester Yeliz, meine Oma Bahide Arslan sowie meine Cousine Ayşe Yılmaz starben bei diesem rassistischen Brandanschlag auf meine Familie.
Ich wurde in dieser Brandnacht von meiner Oma Bahide Arslan noch in nasse Handtücher gewickelt, in die Küche gebracht und dadurch gerettet. Mein Glück war es, dass die Küche nicht brannte.
Heut engagierst Du Dich für Opfer rechter Gewalt und gegen Rassismus. Was genau machst Du?
Für uns muss in erster Linie ganz klar sein, dass unsere Solidarität nach solchen Anschlägen immer erst den Betroffenen Familien und deren Angehörigen gilt. Leider gab es in der Vergangenheit wenig bis gar keine Solidarität gegenüber den Betroffenen und Angehörigen. Selbst sogenannte Opferberatungsstellen gab es damals noch nicht. Es gab leider keine Stellen, wo Betroffene hingehen konnten, um in einen Erfahrungsaustausch zu gehen; geschweige denn Beratungen in Anspruch zu nehmen.
Darum mache ich seit 2007 Betroffenen- beziehungsweise Opferarbeit in der gesamten Bundesrepublik.
Betroffene beteiligen
In den letzten Jahrzehnten haben meine Familie und ich immer wieder betont, wie wichtig es ist, die Betroffenen an den Gedenkprozessen, an den Strafprozessen und den politischen Intervention der antirassistischen und antifaschistischen Gesellschaft zu beteiligen. Denn Sie sind die Hauptzeug*innen des Geschehens und keine Statisten. Wir haben uns immer wieder mit Fragen beschäftigt, die für uns wichtig waren. Beispielsweise mit der Frage: Werden Betroffene von Institutionen oder Politiker*innen instrumentalisiert und mundtot gemacht? Können institutionelle Gedenkveranstaltungen ohne Betroffene eigentlich authentisch sein oder haben an diesem Punkt nicht vielmehr die Betroffenen den Vorrang beim Gedenken?
Diese und weitere Fragen waren für mich und meine Familie wichtig, um einen respektvollen Umgang mit den Betroffenen und deren Familien in der Gedenkkultur zu ermöglichen. Wir haben mit unserem Widerstand und unserer Empowerment-Arbeit weitere Betroffene überzeugt, gegen die Gedenkkultur der Behörden und Institutionen, die sie oftmals als passive Menschen behandelt haben, aufzustehen und aktiv zu werden. Wir haben betroffene Familien mobilisiert und organisiert, obwohl der rechte Terror währenddessen noch weiteren Menschen das Leben nahm und somit sehr viele Angehörige zu weiteren Betroffenen machte.
Betroffene sind aktiv
Die Betroffenen hat dies alles nicht abgeschreckt. Im Gegenteil, mittlerweile organisieren sie Veranstaltungen, schreiben Bücher, machen Filme. Sie entwickeln Theaterstücke, sie sind in Schulen oder gehen auf Demonstrationen. Sie sind aktiv und leisten Widerstand gegen Rassismus und Faschismus. Somit entwickeln Sie eine neue, bessere Gedenkkultur nach ihren eigenen Kriterien.
Deutschland als Vorbild für andere Länder
Mittlerweile ist Deutschland sogar ein Exempel für andere Länder geworden. Aus Österreich, Frankreich, Polen, der Schweiz, selbst aus Amerika bekommen wir Anfragen. Sie möchten erfahren wie wir es schaffen, auf Augenhöhe so eng mit den Betroffenen zusammenzuarbeiten, so dass ein respektvolles Gedenken funktionieren kann.
Was ich zeigen möchte ist, dass aus Betroffenen Aktivist:innen werden. Als Hauptzeug*innen haben sie ein Wissen, das sie effektiv einzusetzen wissen. Nicht nur in der Verteidigung ihrer Opfer, sondern auch in der antirassistischen und antifaschistisch-demokratischen Verteidigung dieser Gesellschaft.
Wo forderst Du ein gesellschaftliches Umdenken?
Wenn wir also in Zukunft über Rassismus und Faschismus sprechen, dann muss das auf partnerschaftlicher Augenhöhe durch eine radikale Partizipation mit den Betroffenen und Angehörigen passieren. Neben der direkten Hilfe und Stabilisierung von Opfern und Angehörigen, neben der sozialen Wiedereingliederung, neben dem Strafprozess gegen die Täter, die Anerkennung und Benennung der rechtsterroristischen Gewalt, gibt es die Dimension der Erinnerung als politische Praxis.
Sprechen, gedenken, auseinandersetzen
Es ist also auch wichtig, Orte des Sprechens über rassistische Gewalterfahrungen, Gedenken und eine kritische Auseinandersetzung damit zu schaffen. Erst wenn Betroffene ihre Geschichten erzählen, ihnen zugehört wird und wir uns darüber austauschen, was Ungerechtigkeit ist und wie die Gerechtigkeit aussehen kann, können wir auch die Spielregeln dieser Gesellschaft und die gegenwärtigen Erzählungen verändern.
Gemeinsam erinnern
Es gibt viele Erfahrungen und Geschichten, viele Verletzungen, viele Wünsche, viele Bedürfnisse und Perspektiven. Sie gilt es zu hören, aus der Vereinzelung zusammenzubringen, zu vernetzen und so in unserer vielfältigen Gesellschaft eine kollektive Erinnerungskultur zu prägen. Ich sehe es als meine Pflicht an. Und gleichzeitig fordere ich die Mehrheitsgesellschaft auf, dieser gedenkpolitischen Arbeit gerecht zu werden.
www.gedenkenmoelln1992.wordpress.com
www.nsu-tribunal.de
Ibrahim Arslan • Opfer und Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992 • historisch-politischer Bildner • Aktivist und mitwirkende Person beim Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992 • Botschafter für Demokratie und Toleranz.
Mehr zum Thema. Aktuelle Veranstaltungen und Beiträge „Vor 30 Jahren ...Mölln nach Mölln" Zwei Ausstellungen blicken zurück und nach vorn Zum 30. Jahrestag der Möllner Brandanschläge werden an verschiedenen Orten in Mölln Ausstellungen präsentiert. So zeigt das Möllner Museum seit dem 3. November 2022 im Historischen Rathaus die Fotoreportage „Mölln nach Mölln – Reaktionen einer Kleinstadt auf rassistische Gewalt“ von Andreas Walle. Im Stadthauptmannshof wurde am 12. November 2022 die Kunstausstellung des Lauenburgischen Kunstvereins -" Mölln 30 Jahre nach Mölln" - eröffnet. Sie ist untertitelt "Was sind wir? Wo wollen wir hin?" und kam auf Einladung des LKV an Künstlerinnen und Künstler im Kreisgebiet zustande. In den Münchner Kammerspielen findet am 23.11.2022 anlässlich des 30. Jahrestags der Anschläge die Uraufführung von „Das Erbe“ statt. Der Autor Nuran David Calis erzählt bewusst eine fiktionale migrantische Erfolgsgeschichte. In seinem Stück zeichnet ein emotionales Porträt einer türkischstämmigen Familie vor dem Hintergrund des aufgeheizten politischen Klimas der 1990er Jahre. Die Gewalttaten gegen Asylsuchende und Migrant:innen prägen das kollektive migrantische Bewusstsein; in der offiziellen deutschen Erinnerungskultur wirken sie aber wie eine Randnotiz. In der Rubrik Hintergrund aktuell veröffentlichte die Bundeszentrale für politische Bildung einen aktuellen Hintergrundbeitrag Vor 30 Jahren: Rechtsextremer Brandanschlag in Mölln. Der NDR veröffentlichte am 19.11.2022 den Fernsehbeitrag "Wir sind doch keine Statisten!" In dem Beitrag geht es um das Erinnern an den Brandanschlag in der Stadt Mölln. Seit Jahren fühlen sich die Überlebenden, die Familie Arslan, nicht einbezogen in das öffentliche Erinnern der Stadt. Sie wünschen sich die Sichtbarmachung der Betroffenenperspektive. Daher startete Ibrahim Arslan die "Möllner Rede im Exil".