Ab Ende der 1980er Jahre migrierten rund 2,7 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Anders als andere Zuwanderungsgruppen, haben die postsowjetische Migration und die Menschen aus der Sowjetunion bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren. Über ihre Situation ist wenig bekannt, obwohl sie eine große Zuwanderungsgruppe sind. In einer 2020 erschienen Studie stellt der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis die Ergebnisse der ersten umfassenden Studie zum Thema vor.

Was ist postsowjetische Migration?

Postsowjetische Migration ist die Migration aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Postsowjetische Migrant*innen und deren Nachkommen sind die größte Zuwanderungsgruppe in der Bundesrepublik. Laut Mikrozensus lebten 2019 rund 3,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland. 2,73 Millionen von ihnen sind selbst zugewandert. Ihre Hauptherkunftsländer sind die Russische Föderation (rund 39 Prozent), Kasachstan (rund 35 Prozent) und die Ukraine (rund 10 Prozent). Zentral geht es dabei um zwei größere Gruppen:

  • Russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler*innen und ihre Familienangehörigen, von denen die Bundesrepublik Deutschland seit den 1970er Jahren rund 2,4 Millionen aufgenommen hat;
  • Jüdische Kontingentflüchtlinge und ihre Familienangehörigen, von denen die Bundesrepublik seit 1990 rund 220.000 aufgenommen hat.

Beide Migrationsbewegungen fanden vor allem zwischen Ende der 1980er Jahre und Mitte 2000er Jahre statt, also im Zuge der Öffnung beziehungsweise Auflösung der Sowjetunion.

Russlanddeutsche Spätaussiedler*innen erhielten die deutsche Staatsbürgerschaft auf Grundlage ihrer individuell nachzuweisenden „deutschen Volkszugehörigkeit“ sowie ihres kollektiven „Kriegsfolgenschicksals“.

Jüdische Kontingentflüchtlinge erhielten zunächst in der DDR und dann im wiedervereinigten Deutschland Schutz vor dem zunehmenden Antisemitismus in der zerfallenden Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Die Bundesregierung interpretierte dies auch als Wiedergutmachung für die Shoah.

Erwartungen und Ansprüche der deutschen Gesellschaft

Auch die Erwartungen und Ansprüche der deutschen Gesellschaft an die sogenannten „russischsprachigen Zuwanderer“, nimmt der Autor unter die Lupe. Er erklärt, warum diese nicht erfüllt werden konnten:

Die Situation der postsowjetischen Migranten in den Neunzigern war insbesondere zu Beginn recht problematisch, weil man tendenziell davon ausging, dass dort einerseits eben mehr, im Fall der Spätaussiedler, Deutsche kommen, die sich in Deutschland einfach integrieren können und dass auf der anderen Seite Juden kommen, denen man ja allerlei sehr positive Eigenschaften zugeschrieben hat: hochgebildet, Kulturträger. Das war dann in der Realität alles etwas komplizierter. Die Arbeitsmarktintegration lief am Anfang sehr problematisch. Bis in die frühen 2000er Jahre war sowohl bei Spätaussiedlern als auch bei Kontingentflüchtlingen die Arbeitslosigkeit sehr hoch.

Jannis Panagiotidis, Interview im BR24, 27.11.2020

„Sie arbeiten viel, verdienen aber nicht unbedingt viel damit“

Spätaussiedler*innen und Kontingentflüchtlinge kamen in einem geregelten Aufnahmeverfahren nach Deutschland, Spätaussiedler*innen erhielten sogar die deutsche Staatsbürgerschaft. Die sichere Bleibeperspektive wirkte sich Panagiotidis zufolge positiv auf ihre Teilhabe am Arbeitsmarkt aus. Ihre Erwerbslosenquote ist in den letzten Jahren nochmals deutlich gesunken, die Haushaltseinkommen gestiegen.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber: Oft tragen mehrere Personen, die jeweils wenig verdienen, zum Haushaltseinkommen bei. Postsowjetische Migrant*innen sind überdurchschnittlich häufig in prekären Jobs beschäftigt.

Gerade jüdische Kontingentflüchtlinge sind häufig auf Sozialhilfe angewiesen und von Altersarmut betroffen. Sie sind zwar oft gut qualifizierte Akademiker*innen, ihre Bildungsabschlüsse wurden aber häufig nicht anerkannt und ihre Arbeitsjahre in der Sowjetunion nicht für die Rente in Deutschland angerechnet.

Wo leben sie?

Die Aufnahme postsowjetischer Migrant*innen war staatlich gesteuert: sie sollten gleichmäßig über die Bundesländer verteilt werden. Es galt eine Wohnsitzauflage. Panagiotidis zeigt, dass dieser Plan – unabhängig davon, ob er sinnvoll ist oder nicht – auf den ersten Blick auf Bundesebene funktioniert hat. Mit Ausnahme von Ostdeutschland und ein paar Siedlungsschwerpunkten leben sie relativ gleichmäßig über die Bundesrepublik verteilt.

Im ländlichen Raum sind postsowjetische Migrant*innen oft die größte Einwanderungsgruppe. In Ostdeutschland gibt es zwar insgesamt weniger Menschen mit Einwanderungsgeschichte, postsowjetische Zugewanderte stellen aber durchaus einen beachtlichen Teil der Migrationsbevölkerung.

Panagiotidis zeigt aber auch: Obwohl postsowjetische Migrant*innen gleichmäßig über das Bundesgebiet verteilt sind, leben sie in einzelnen Städten im Vergleich zu polen- oder türkeistämmigen Communities sehr stark konzentriert. Konzentration lasse sich dem Migrationsforscher zufolge nicht dadurch verhindern, Personen auf bestimmte Regionen zu verteilen. Zudem sei die Konzentration nicht negativ zu bewerten: Bei postsowjetischen Migrant*innen sei sie kein „Integrationshindernis“ gewesen, da etwa die Teilhabe am Arbeitsmarkt vergleichsweise gut funktioniert hat.

Antislawischer Rassismus

Postsowjetische Migrant*innen nehmen laut Panagiotidis einen „eigenartigen Platz in der Vorurteilsstruktur“ ein. Sie sind werden als weiß wahrgenommen – und wenn es gut läuft gelten sie als „fleißige Deutsche“.

Gleichzeitig herrschen gegenüber ihren Herkunftsländern, insbesondere Russland, massive Vorurteile. Jüdische Kontingentflüchtlinge sind dem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft ausgesetzt.

Hinzu komme ein schon lange bestehender antislawischer Rassismus. In der NS-Zeit sah der Generalplan Ost vor, Osteuropa zu kolonisieren und die Menschen dort zu versklaven. Auch in der Gegenwart erleben postsowjetische Migrant*innen rassistische Gewalt, so etwa bei einem Attentat 2000 in Düsseldorf-Wehrhahn.

Hohe Zustimmungswerte zur AfD – Woran liegt das?

Postsowjetische Migrant*innen wählen überdurchschnittlich oft die AfD. 2018 äußerten bei einer Umfrage 17,3 Prozent der postsowjetischen Wähler*innen, dass sie die Partei wählen würden. Panagiotidis zufolge ist das vor allem auf einen Rechtsruck unter konservativen Wähler*innen zurückzuführen: Zwar ist die CDU immer noch die beliebteste Partei, jedoch nimmt die Zustimmung zugunsten der AfD ab.

Die AfD erhält dort viele Stimmen, wo der Anteil postsowjetischer Wähler*innen hoch ist. Panagiotidis geht von „neighbourhood effects“ aus: Wenn viele Menschen einer Gruppe auf einem Raum leben, wählen sie verstärkt Parteien, die als die „eigene“ gelten. Die AfD ist keine russlanddeutsche Partei, sie versucht aber, postsowjetische Wähler*innen für sich zu gewinnen und übersetzt etwa das Parteiprogramm ins Russische. Andere Parteien hätten es versäumt, die Wähler*innen für sich zu gewinnen. Das sei aber nur ein Teil der Wahrheit, so Panagiotidis. Rund 40 Prozent der postsowjetischen Wähler*innen sympathisieren konstant mit Mitte-links Parteien.

Postsowjetische Migration. Umfassend, differenziert und gut lesbar

Diese Publikation ist mehr als eine Einführung. Jannis Panagiotidis schildert erstmals umfassend, warum Menschen aus aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kommen und wie sie hier leben. Dabei stechen Diffenrenziertheit und Empathie in den Ausführungen hervor. Studien, Interviews und der Mikrozensus bilden eine wichtige Grundlage seiner Arbeit. Die Lektüre lohnt sich nicht nur für Menschen, die an intergartionspolitischen Themen interessiert sind. Panagiotidis will bewußt eine breite Öffentlichkeiet erreichen. Daher sind die Ausführungen gut lesbar und nicht zu wissenschaftlich.

Jannis Panagiotidis: Postsowjetische Migration in Deutschland. Eine Einführung. Mit einem Vorwort von Sergey Lagodinsky, Buch, broschiert 246 Seiten, ISBN:978-3-7799-3913-9, Erschienen: 25.11.2020  

Über den Autor

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arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. Der Begriff SEITEN:BLICK steht für die Blicke, die wir links, rechts und hinter "die Dinge" werfen wollen.

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