Heute vor 58 Jahren, am 7. Oktober 1965, wurde das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tunesischen Republik unterzeichnet.

Anwerbeabkommen – was sind sie, woher kommen sie?

Ein Anwerbeabkommen regelt die Zu- und Abwanderung von Arbeitskräften zwischen zwei Staaten. Die frühesten bilateralen Verträge dieser Art wurden bereits in der klassischen Antike festgehalten. Damals enthielten sie Gesetze der Sklaverei, heute umfassen sie Punkte wie Aufenthaltsrecht und Arbeitsrecht.

Während Frankreich bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch sinkende Geburtenraten und später durch den Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) und den Ersten Weltkrieg (1914–18) einen drastischen Verlust an Arbeitskräften erlebte und infolgedessen mit Italien (1919), Polen (1919), der Tschechoslowakei (1920) und Spanien (1932) Anwerbeabkommen traf, schloss Deutschland sein erstes Anwerbeabkommen am 3. Dezember 1937 mit Italien, um Arbeitskräfte für  Landwirtschaft und Rüstungsindustrie ins Land zu holen. 

Nach 1950 erlebte die Wirtschaft im Nachkriegsdeutschland einen derartigen Boom, dass zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland unabdingbar wurden.

Daher vereinbarte die BRD zwischen 1955 und 1968 Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Griechenland, Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien: die Zeit der „Gastarbeiter“ begann. „Gastarbeiter“ erhielten anfangs nur befristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, eine Ausweitung dieser Zeiträume oder gar eine „feste“ Ansiedelung der Leute war nicht geplant.  Deutschland galt zu diesem Zeitpunkt nicht als Einwanderungsland.

In der DDR wurden die „Gastarbeiter“ „Vertragsarbeiter“ genannt und kamen aus Vietnam, Kuba, Nicaragua, Mosambik, Polen, Ungarn, Jemen und Angola.

1973 wurde im Zuge der Ölkrise jegliche Anwerbung gestoppt, bis im Jahr 1998 der sog. „unternehmensinterne Fachkräftetransfer“ eingeführt wurde. Diese Regelung ermöglichte international agierenden Unternehmen, ihre Arbeitskräfte/Angestellten auch über Landesgrenzen hinweg ins Ausland zu entsenden.

Mit der Greencard trat im Jahr 2000 schließlich eine Sonderregelung in Kraft, mithilfe derer ausländische hochqualifizierte IT-Spezialisten einen auf fünf Jahre begrenzten Aufenthaltsstatus erlangen konnten.

Das Anwerbeabkommen mit Tunesien

Das Anwerbeabkommen mit Tunesien im Jahr 1965 bedeutete den Beginn einer tunesischen Einwanderung in die damalige BRD. Anders als bei den Abkommen mit westlichen Ländern gab es für die Immigranten aus Tunesien Sonderregelungen. Bewerben durften sich ausschließlich unverheiratete Männer und Familienzusammenführungen waren nicht erlaubt. Der Aufenthalt war auf maximal zwei Jahre beschränkt, eine Verlängerung ausgeschlossen. Die Bewerber mussten außerdem ein Gesundheitszeugnis vorlegen sowie eine Eignungsprüfung im Hinblick auf die auszuführende Arbeit – z.B. im Bergbau – bestehen.

Für die tunesischen „Gastarbeiter“ war Deutschland ein Land der Verheißung. Neben den wesentlich besseren Verdienstmöglichkeiten und aus schlichter ökonomischer Notwendigkeit bestand die Möglichkeit, sich beruflich durch qualifizierte Fortbildung weiterzuentwickeln. Mitte der 1960er Jahre waren in Tunesien circa 800.000 Menschen arbeitslos. Vor allem aber war es das Verlangen nach Freiheit, die das Leben in Westdeutschland für die Menschen aus Tunesien bedeutete. Es war auch der Wunsch nach einem Leben fernab von familiären und gesellschaftlichen Zwängen und Einschränkungen.

Beispiel Wolfsburg: Gastarbeit bei Volkswagen

Die ersten „Gastarbeiter“ aus dem Maghreb-Staat kamen 1970 in Wolfsburg an. Sie bildeten dort mit 467 Männern nach den „Gastarbeitern“ aus Italienern die zweitgrößte Gruppe. Bis zum Anwerbestopp 1973 stieg die Zahl der bei Volkswagen tunesischen Angestellten auf ungefähr 2.600.

Die Volkswagen AG hatte bei der Bundesagentur für Arbeit, welche die Einwanderungsabläufe entsprechend der Kriterien der Bundespolitik regelte und koordinierte, explizit nach Hilfen aus Tunesien angefragt. Die Tunesier galten als gut ausgebildete Arbeitskräfte. Teilweise wurden Personaler von Volkswagen für persönliche Bewerbungsgespräche und spezielle Einstellungstests nach Tunesien geschickt, um vor Ort eine genaue „Auswahl“ treffen zu können. Ein wichtiges Kriterium, neben der Altersbeschränkung (18-25 Jahre) und dem erforderlichen Gesundheitszustand, waren für Volkswagen u.a. fließende Französischkenntnisse, denn die firmeninterne Sprache sollte europäisch sein. Auch wurden nur alleinstehende Männer übernommen: man wollte sich familiäre Probleme z.B. bei der Suche nach größenmäßig geeigneten Wohnungen oder passenden Schulen für die Kinder ersparen.

Die Geschichte von Belgacem Ben Othman

In einem Interview mit Deutschlandfunk (2014) erzählt der damals 63jährige Tunesier Belgacem Ben Othman, wie er die Zeit damals in Wolfsburg erlebte. Er war 1970 als „Gastarbeiter“ nach Deutschland gekommen.

Auch er war auf einem Schiff über das Mittelmeer nach Sizilien und von dort mit der Bahn über den Brenner bis nach Wolfsburg gekommen. Nach ihrer Ankunft erhielten die von der langen Reise erschöpften Männer etwas zu essen und bekamen auch einen gewissen finanziellen Vorschuss ausgehändigt. Sodann wurden sie auf die verschiedenen zu besetzenden Posten verteilt und entsprechend eingekleidet. Moderne Onboardingprozesse, wie sie heute stattfinden, gab es damals nicht. Auch die deutsche Belegschaft wurde in keiner Weise auf die neuen Kollegen vorbereitet. Für die „Gastarbeiter“ war dies gänzlich nebensächlich: „Damals wollte ich nur weg (aus Tunesien) (…). Wegen der Armut, ich wollte nur weg.“

Othman war gelernter Dreher und begann bei Volkswagen, wo er sich bis zum Anlagenführer hocharbeitete. Nach dem Anwerbestopp 1973 konnte Othman seine Frau nach Deutschland holen. Die beiden fanden eine kleine Wohnung in Kassel. Sie bekamen vier Kinder, die alle in Deutschland studierten und heute immer noch in Europa leben. Othman und seine Frau sind mit Beginn der Rente zurück nach Tunesien gezogen– zu den Familienangehörigen, den Freunden, die sie damals auf unbestimmte Zeit zurückgelassen hatten. Die Rückkehr ins Heimatland fiel jedoch nicht leicht: „Im ersten Jahr haben wir hier richtig gefroren. Nach 40 Jahren haben wir die (tunesischen) Winter vergessen, in Deutschland hatten wir ja immer eine Heizung.“

Wolfsburg und seine Migrationsgeschichte

Von den tunesischen „Gastarbeitern“, der zweiten großen Gruppe an Arbeitsmigranten, die seitens des Volkswagenwerks angeworben wurden, die Anfang der 1970er Jahre nach Wolfsburg kamen, finden sich kaum Spuren ihrer Migrationsgeschichte, ihres Ankommens und Lebens in der Wolfsburg im kommunalen Archiv. 

Seit September 2022 führt das Wolfsburger Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation bis zum jetzigen Zeitpunkt 15 weitere Oral-History-Gespräche mit Menschen aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Griechenland, Jugoslawien, Kasachstan, Polen, Spanien und Tunesien. Bereits aus diesen lebensgeschichtlichen Interviews eröffnen sich eine Vielzahl neuer Perspektiven auf die Zuwanderungsgeschichte von Stadt wie Land – und zahlreiche Optionen auf weitere Projekte. Neben den Diktaturerfahrungen interessieren die Mitarbeitenden des Instituts für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation vor allem die sozialen und informellen Netzwerke der Zugewanderten, die ihnen die ersten Schritte in der Fremde erleichtert haben. Neben den klassischen Themen wie Arbeit, Armut und Sprache sind es aber auch Geschichten über Freiheit, Mut, Selbstbehauptung und Unabhängigkeit, die unsere Aufmerksamkeit wecken und fesseln.

Titelbild: Die Moschee von Kairouan, Tunesien. Foto Claudia Sonnemans auf Pixabay

Über den Autor

Antonia Kennel

... ist Schauspielerin, Hypnotherapeutin, NLP-Trainerin und Ärztin. Geboren und aufgewachsen in Bayerisch-Schwaben. In ihrer Freizeit schreibt sie für verschiedene Magazine.

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