WORUM GEHT ES?

„Wir hörten auf Gastarbeiter zu sein“ – 50 Jahre „wilde“ Streiks von 1973. Mit seiner Sonderseite stellt das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) die „Gastarbeiterfrage“ und den Umgang der Deutschen mit den „Gastarbeitern“ in den Mittelpunkt.

DOMiD bringt uns die Geschichte der Streiks durch Zeitzeugen-Berichte, Filme, Foto- und Audiomaterial nahe. Es gibt Veranstaltungstipps, weiterführende Online-Links, wer möchte, kann sogar auf ein eBook (edition DOMiD) zurückgreifen.

Bei den „wilden“ Streiks 1973 geht es um zwei verschiedene Arbeitsniederlegungen: einmal in Köln bei Ford, des Weiteren bei Pierburg in Neuss. Auch wenn nur von diesen beiden Streiks die Rede ist, stehen diese doch stellvertretend für annähernd 300 weitere Arbeitsniederlegungen, die in 1973 stattfanden. Über 250.000 Beschäftigte nahmen damals an den gewerkschaftlich organisierten Arbeitskämpfen teil, um für bessere Arbeitsbedingungen und die Gleichstellung migrantischer und deutscher Arbeiter zu kämpfen.

„Wild“ wurden die Streiks deshalb genannt, da bei dem Streik bei Ford die Friedenspflicht nicht eingehalten. Es kam zu Handgreiflichkeiten zwischen den Arbeitern, der Polizei und dem Werkschutz.

„Wilde Streiks“. Zeitgeschichtlicher Kontext: Der Anwerbestopp

Die wilden Streiks sind im zeitgeschichtlichen Kontext mit dem durch die Ölkrise provozierten allgemeinen Anwerbestopp in 1973 zu sehen. Durch diese Regelung sollten nicht nur dem Strom der „Gastarbeiter“ Einhalt geboten werden. Ziel war auch, alle bis dato nach Deutschland eingewanderten Arbeiter wieder zurückzuschicken. Dies war jedoch für viele Migranten keine Option. Sei es, dass die politische Lage ihrer Heimatländer dies unmöglich machte, sei es, dass das erarbeitete finanzielle Polster noch nicht groß genug war, um der zuhause herrschenden Existenznot zu entkommen.  

DOMiD lässt Historiker zu Wort kommen

„Dass die „wilden“ Streiks mit 50 Jahren Abstand nun breiter erinnert werden, ist zum einen der Vehemenz von Aktivist*innen zu verdanken, die migrantischen Widerstand als Teil der Geschichte sichtbar gemacht haben, und zum anderen der Aktualität der damaligen Kämpfe für die Auseinandersetzungen von heute.“

Nuria Cafaro, Historikerin in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 7-8/2023

In einem Artikel, hebt die Historikerin Nuria Cafaro die Aktualität der wilden Streiks und ihre Bedeutung für die damals in Kraft tretenden Entwicklungen sowie für unsere heutige Zeit hervor. Der Streik bei Ford wurde in der Öffentlichkeit diskreditierend als Türkenstreik bezeichnet. In Neuss waren die Streikenden weiblich und zum größten Teil migrantisch. „Während ersterer die massive innerbetriebliche Spaltung – die sowohl in Entsolidarisierung zwischen deutschen und migrantischen Beschäftigten als auch in eskalierender Entfremdung der migrantischen Kolleg:innen von den offiziellen Interessensvertretungsorganen bestand – offenlegte und zunächst vergrößerte, wurde letzterer zu einem der herausragenden Beispiele gelungener Solidarisierung, sexistischen und rassistischen Betriebshierarchien zum Trotz. (…) Wir können in vielfältiger Weise von ihnen lernen.“ So schreibt es Nuria Cafaro,

Derselben Meinung ist auch der Historiker Peter Birke:

„Sieht man sich an, wie manchmal Menschen auf der Arbeit behandelt werden, die heute nach Deutschland kommen, dann findet man allerdings sehr viele Ähnlichkeiten, mit dem, was den Leuten damals bei Pierburg oder Ford geboten wurde. Deshalb sind die Streiks 1973 so wichtig für eine emanzipatorische Erinnerungskultur.“

Peter Birke

Der Widerstand der Arbeiter begründete sich durch die schlechten Bedingungen in den Arbeitsstätten. Grund waren u.a. schlechte Arbeitsbedingungen am Band wie z.B. hohe Bandlaufgeschwindigkeit, Verbot von Pausen oder niedrige und ungerechte Bezahlung. (Eingestuft in sog. „Leichtlohngruppen“ verdienten Frauen bei gleicher Arbeit knapp zwei D-Mark weniger als Männer). Nachdem ca. 1.000 Gastarbeiter aus der Türkei verspätet aus ihrem Sommerurlaub zurückgekehrt waren, drohten Kündigungen und Disziplinarmaßnahmen, deren Niederlegung die Streikenden verlangten. (Angesichts der oft tagelangen Hin- und Rückreisen ins Heimatland bestand für die Arbeitsmigranten die Möglichkeit, ihren Urlaub unbezahlt zu verlängern.)

Nachdem die Gewerkschaften und Arbeitgeber schließlich kleinbeigeben mussten und Forderungen umgesetzten, verbesserte dies nicht nur Arbeitsbedingungen und Gehalt der migrantischen Arbeiter. Auch vollständige die Produktionsabläufe der Beschäftigten wurden verändert.

Navigation

Screenshot der Webseite über „Wilde“ Streiks 1973 auf der Homepage von DOMiD

Geht man auf domid.org, findet man gleich links im Bild den Verweis auf die Sonderseite: „Wilde“ Streiks 1973. Rechts davon gibt es ein Hörspiel zum Thema: „Wenn der Damm bricht“ – Autor Mesut Bayraktars Sicht auf den Streik bei Ford. Unter dem Punkt Bildungsangebote kann man rund um die Uhr kostenlos ein virtuelles Migrationsmuseum besuchen. Wer mehr wissen will, auch über weitere Projekte von DOMiD, findet unter Projektwebsites links zu Seiten wie meinwanderungsland.de, wo DOMiDs erstes „Outreachprojekt“ vorgestellt wird. Das Projekt der DOMiDLabs – in „Laboren“ gemeinsam Museen zu gestalten – spricht Menschen jeder Altersgruppe an. Und auch die Pläne und die Idee hinter dem in der Entstehung begriffene Museum selbst, das „Haus der Einwanderungsgesellschaft“ in Köln Kalk, werden erzählt. „Der Ort bedeutet auch eine Würdigung von Migrant*innen und ihrer Nachkommen, die die deutsche Einwanderungsgesellschaft in der Vergangenheit geprägt haben, gegenwärtig prägen und zukünftig prägen werden.“, heißt es auf der Webseite.


Titelbild: macroworlds auf Pixabay, gemeinfrei

Über den Autor

Antonia Kennel

... ist Schauspielerin, Hypnotherapeutin, NLP-Trainerin und Ärztin. Geboren und aufgewachsen in Bayerisch-Schwaben. In ihrer Freizeit schreibt sie für verschiedene Magazine.

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