Ich bin US-Amerikanerin mit einem jüdischen Nachnamen. In Deutschland lebe ich seit 2012 und habe in der Regel keine schlimme Fremdenfeindlichkeit erlebt, da ich weiß bin und fließend Deutsch kann. Im Laufe der Jahre musste ich viele komische Aussagen bezüglich Juden, Israel und US-Amerikaner*innen hören, aber wurde nie – soweit mir bewusst ist – deswegen benachteiligt.

Dieses Jahr ist das erste Mal in meinen knapp neun Jahren hier in Berlin, dass ich einer Deutschen gegenüber offensichtlich ungleich behandelt wurde. Hier sind meine Beobachtungen zu den Unterschieden zwischen den USA und Deutschland in Bezug auf den Umgang mit Anwält*innen und systemischem Rassismus.

Zuerst zu dem auslösenden Sachverhalt: im Herbst 2019 zog ich in eine Altbauwohnung ein. Die deutsche, weiße Nachbarin direkt unter mir fühlte sich seit meinem Einzug von mir belästigt. Sie  war der Meinung, ich sei zu laut, einfach, weil ich von einem Zimmer ins andere laufe. Sie wurde irgendwann so aggressiv und bedrohlich, dass ich die Polizei rufen musste.

Wegen dieser Übergriffigkeit seitens meiner Nachbarin hatte ich eine Beschwerde beim Ordnungsamt eingereicht, allerdings erhielt ich nie eine Antwort. Meine Nachbarin hat dann zwei Monate später falsche Angaben getätigt, dass ich nachts laut gewesen sei und es wurde ihr sofort geantwortet. Als ich diese Anschuldigungen dann verneint hatte und das Ordnungsamt darauf aufmerksam gemacht hatte, dass meine Beschwerde nie beantwortet wurde, sollte ich direkt ein Bußgeld wegen „ordnungswidrigen Verhaltens“ zahlen. 

Mein deutscher Ehemann hatte vor mehreren Jahren einen ähnlichen Fall und bei ihm hat ein Einspruch beim Ordnungsamt gereicht, um kein Bußgeld zahlen zu müssen. In meinem Fall jedoch wurden mehrere Anschreiben von mir an das Ordnungsamt nie beantwortet, sodass ich nun mit einem Anwalt für Verwaltungsrecht vor Gericht gehen muss, da ich als jüngere Ausländerin mit einem jüdischen Nachnamen scheinbar weniger glaubhaft bin als meine ältere deutsche Nachbarin, trotz der Tatsache, dass ich mehr Beweise vorgelegt hatte als die Nachbarin.

Der Gerichtsprozess läuft noch und auch wenn ich ihn letztendlich „gewinne“, habe ich am Ende verloren, da ich bisher 735 € für die Anwaltsgebühren ausgeben musste, um die Vorwürfe vom Ordnungsamt zu widerlegen und das Ordnungsamt aufzufordern, den Bußgeldbescheid zurückzunehmen.

Da die Sachbearbeiterin beim Ordnungsamt mich so einseitig behandelt hat – trotz meiner sehr deutlich formulierten Verteidigung – hatten mein Mann und ich angefangen uns zu fragen, ob sich die Sachbearbeiterin voreingenommen verhält.

Ich hatte mich an alle möglichen Stellen gewendet, um Unterstützung zu ersuchen: strafrechtliche Rechtsberatung, Polizeistellen, Mietrechtsanwält*innen und Verwaltungsrechtsanwält*innen. Diese Leute, mit denen ich geredet hatte, waren alle weiße Deutsche, die der Ansicht waren, dass es überhaupt nicht möglich sei, dass die Sachbearbeiterin beim Ordnungsamt irgendwie korrupt oder fremdenfeindlich sei.

Für diese Menschen wäre etwas also keine Fremdenfeindlichkeit, bis es absichtlich, bewusst und direkt gesagt bzw. gemacht wurde. Hier kommt nun das Thema unterbewusster und systemischer Rassismus ins Spiel. Denn wir Menschen haben alle eine unbewusste, passive Voreingenommenheit. 

Tagtäglicher Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland

Die Leute, die mich in meinem Sachverhalt unterstützt haben und meine Verdächtigungen für plausibel gehalten haben, waren vorwiegend People of Color bzw. Menschen aus Minderheitsgruppen in Deutschland.

Laut des neuen Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG), das im Juni 2020 in Kraft getreten ist, fängt Diskriminierung schon mit ungleicher Behandlung an. Bisher lag die Beweispflicht bei Opfern von Diskriminierung. Sie mussten immer konkret nachweisen, dass jemand sie diskriminiert hat, z.B. ein Schimpfwort beim Vorbeigehen benutzt hat. Jedoch ist sowas oft schwer zu beweisen.

Das LADG hat dies umgekehrt. Nun muss man beweisen, dass die Person nicht ungleich behandelt wurde. Man muss Menschen von historisch benachteiligten Gruppen mit denselben Qualifikationen, Beweisen usw. stets gleich behandeln und zuhören wie Menschen aus nicht historisch benachteiligten Gruppen. Deshalb konnte ich in meinem Fall ein Verfahren gegen das Ordnungsamt einleiten und – parallel zum laufenden Gerichtsprozess – fordere ich aktuell Schadensersatz mit Hilfe der Antidiskriminierungsstellen ein.

Nur dank des LADGs gibt es nun die Anerkennung von subtilem und systemischem Rassismus. Davor konnte man einfach sagen, „Nein, ich hatte keine Absicht, diese Person anders zu behandeln mit denselben Qualifikationen, Beweisen usw. Deswegen handelt es sich nicht um Voreingenommenheit und ungleiche Behandlung.“

Aber laut des LADGs ist ungleiche Behandlung schon Diskriminierung. Die Wirkung ist wichtiger als die Absicht, da das Gesetz auch unbewusste Voreingenommenheit berücksichtigt.

Privilegierter, weißer Mensch oder ethnisch anders

Besonders als US-Amerikanerin stechen hier ein paar Sachen für mich heraus: in den USA gelte ich einfach als weiße Frau. Vielleicht wäre meine persönliche Erfahrung in den USA komplett anders gewesen, wenn ich schwarze oder asiatische Amerikanerin wäre. Dort werde ich als privilegierter, weißer Mensch behandelt.

In Deutschland gelte ich als ethnisch anders, nicht nur weil ich über eine andere Staatsangehörigkeit verfüge, sondern auch, weil ich jüdisch bin. Das weiß ich, weil ich im Laufe der vergangenen knapp neun Jahre Sachen gehört habe wie, „Aber du siehst nicht amerikanisch aus“ und „Fühlst du dich mehr jüdisch oder amerikanisch?“ (als ob sich Jüdischsein und Amerikanischsein gegenseitig ausschließen) und „Aber woher kommst du wirklich?“

Trotzdem werde ich hier nur sehr selten als Minderheit ungleich behandelt – im Gegensatz zu meinen Freund*innen, die „in Vollzeit“ als Minderheiten hier in Deutschland gelten und deswegen den Eisberg kennen, von dem ich gerade nur die Spitze erlebe. 

Gaslighting

In meinem aktuellen Fall habe ich einen Mangel von Empathie und ein Problem mit Gaslighting erfahren, was mir so in den USA nicht widerfahren wäre. (Gaslighting ist eine Form von psychischem Missbrauch, in der die Wahrnehmung der Realität des Opfers über einen langen Zeitraum durch eine oder mehrere Personen in Frage gestellt wird.)

Trotz der Tatsache, dass Rassismus, Fremdenfeindlichkeit usw. in den USA existiert, finde ich, dass sowas wie Gaslighting viel häufiger in einem Land wie Deutschland vorkommt, was ich nicht nur durch mein Erlebnis feststellen konnte, sondern auch durch meine Gespräche mit Mitbürger*innen mit einem Minderheitshintergrund hier in Berlin (z.B. muslimische Syrer und türkischstämmige Deutsche) im Gegensatz zu meinen Gesprächen mit Menschen aus meinem Heimatland.

Ein Beispiel von Gaslighting hier in Berlin: bevor ich bei der Antidiskriminierungsstelle gelandet bin, hatte ich mit einem Mietrechtsanwalt über mein Verfahren telefoniert und gesagt, dass ich ungleich behandelt und daher diskriminiert werde.

„Ich reagiere sehr allergisch gegen solche Vorwürfe von Rassismus und ungleicher Behandlung.“ hat mir der Anwalt am Telefon gesagt. „Ich habe zwei adoptierte Kinder: eins ist türkischstämmig und das andere ist schwarz. Ich will nicht, dass sie alles als rassistisch sehen. Zum Beispiel habe ich meinem schwarzen Sohn gesagt, dass es nicht rassistisch ist, wenn ältere Deutsche das Wort N**er nutzen. Die meinen das nicht rassistisch!“

In den USA hätte ich diese Aussage vom Mietrechtsanwalt veröffentlichen (z.B. über Google-Rezensionen) und seinen Ruf dadurch stark schädigen können, was ich auch gerecht finden würde.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will damit nicht sagen, dass  die USA perfekt ist. Auch dort gibt es viel bewussten und unbewussten Rassismus. Jedoch ist der Diskurs darüber viel offener als der in Deutschland. In den USA reden die Menschen viel öfter in der Öffentlichkeit über systemischen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und „Microaggressions“ (tagtäglichen Rassismus). In Deutschland habe ich irgendwie das Gefühl, dass viele Leute erst einmal grundsätzlich überlegen müssen, was tagtäglicher Rassismus überhaupt bedeutet. 

Whataboutism

Im Laufe der Jahre habe ich in Deutschland viel Whataboutism erlebt. Whataboutism ist das rhetorische Ablenkungsmanöver, eine Anschuldigung oder eine schwierige Frage mit einer Gegenfrage zu antworten oder ein komplett anderes Thema aufzugreifen.

Wenn ich z.B. das hiesige System oder den Rassismus oder Unrecht anspreche und kritisiere, dann kriege ich sehr oft die Antwort zurück, „Ja, aber in den USA passiert X und Y…“. Ich kann die Verteidigungsreaktion sogar verstehen. Nichtsdestotrotz: Die Ungerechtigkeit in den USA rechtfertigt die Ungerechtigkeit hier in Deutschland nicht. Wie man auf Englisch sagt, „Two wrongs don’t make a right.“

Ich will keinerlei Entschuldigungen für Diskriminierung hören. Ich will Menschen darauf aufmerksam machen und sämtliche Ungerechtigkeit bekämpfen.

Wie wäre meine aktuelle Erfahrung in den USA behandelt worden? 

Der Ausgangspunkt wäre anders: Wie ich vorhergehend erklärt habe, wäre ich in den USA in einem solchen Fall einfach als weiße Frau angesehen worden.

Außerdem gäbe es ein paar weitere Unterschiede: Erstens gibt es kein Ordnungsamt in den USA. Dort regelt die Polizei Sachen wie Nachbarschaftsstreitigkeiten und Ruhestörungsbeschwerden direkt. Zum Beispiel: wenn die Polizei um 3 Uhr nachts vor meiner Tür steht und klingelt, dann würde sie sofort feststellen, dass ich am Schlafen bin.

Die  Mitarbeiter*innen im Ordnungsamt dagegen lesen die Beschwerden einer älteren Frau mit einem traditionell deutschen, nichtjüdischen Nachnamen gegen eine jüngere Ausländerin mit einem sehr jüdischen Nachnamen und entscheiden sich subjektiv, nur einer Seite zu glauben. Dieses  Verhalten ist extrem problematisch und kann – wie bei mir – leicht versteckten systemischen Alltagsrassismus zeigen und dazu beisteuern. 

Zweitens: Eine US-amerikanische Anwaltskanzlei wäre höchstwahrscheinlich viel proaktiver als eine deutsche Kanzlei (Jedenfalls als die, die ich bisher beauftragt habe.) 

 In den USA sind Anwaltskanzleien normalerweise motivierter, ein Verfahren zu gewinnen oder zumindest einen guten Deal für ihre Mandanten zu bekommen, weil sie oft dadurch eine Provision und gute Kundenrezensionen – und, dadurch, einen guten Ruf – bekommen. Der gute Ruf eines Dienstleisters hat kulturell viel mehr Gewicht auf die Karriere in den USA als in Deutschland.

Hier in Deutschland verdienen die Anwälte keine Provision, wenn sie bei einem Gerichtsverfahren gewinnen. Der Erfolg sagt bloß aus, welche Partei die Anwaltskosten übernehmen muss. 

Die US-amerikanischen Anwaltskanzleien sind aber auch motivierter, mehr mit ihren Mandanten zu kommunizieren und mehr Stunden Arbeit reinzustecken, da sie für jede 12-15 Minuten eine Rechnung an ihre Kunden schreiben können. 

Vielleicht wäre in Deutschland etwas zwischen der US-amerikanischen Art und Weise und der aktuellen deutschen Qualitätsgrundlage gut. Der Qualitätsschnitt der Dienstleistungen der Anwaltskanzleien in Deutschland könnte auf jeden Fall davon profitieren, erhöht zu werden. Letztendlich sind die Anwält*innen hier nicht billig – insbesondere angesichts der niedrigeren Berliner Gehälter.

Fazit

Da ich in den USA zur weißen Mehrheit gehöre, sind meine Erlebnisse hier und in den USA sehr unterschiedlich. Man müsste eine statistische Umfrage mit Menschen durchführen, die als Minderheiten in den USA gelten und jetzt hier in Deutschland leben, um festzustellen, wo welche Art von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit usw. erlebt wird und ob es in dem einem oder anderen Land besser ist.

Generell gibt es in den USA mehr Bewusstsein über bewussten sowie unbewussten Rassismus und Fremdenfeindlichkeit als in Deutschland. Zwar sind in den USA die Anwaltskosten hoch, weshalb es schwieriger für benachteiligte Menschen – die vorwiegend nicht reich sind – sein kann, rechtlichen Schutz zu ersuchen, wenn sie diskriminiert werden. Jedoch ist in den USA der Diskurs über Diskriminierung viel offener als in Deutschland . 

Mein Eindruck hier in Deutschland ist, dass viele Menschen dem deutschen System blind vertrauen. In den USA ist Grassroots-Activism stärker ausgeprägt. Bei den US-Amerikanern ist das Gefühl ausgeprägter, dass die Regierung sie nicht richtig schützen kann (z.B. ist der US-Amerikanische Sozialstaat auf keinen Fall so gut entwickelt wie die westeuropäischen Sozialstaaten).

Deshalb haben US-Amerikaner ein gesundes Misstrauen, das sie zu Reformaktionen und -bewegungen – u.a. bezüglich Gesetzgebung – motiviert. Sowas wünsche ich mir auch für meine zweite Heimat Deutschland.

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Über den Autor

Rachel Dickstein

(geboren 1990 in San Diego, Kalifornien, USA) arbeitet aktuell als Projektmanagerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Als Alumna des Fulbright-Stipendiums sowie des Internationalen Parlamentsstipendiums des Deutschen Bundestags findet Rachel transparente und respektvolle interkulturelle Dialoge unabdingbar.

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