Ein Gast kommt, dann geht er wieder. Das war die Idee hinter dem Begriff der sogenannten Gastarbeiter. Menschen aus dem Ausland kommen nach Deutschland, erledigen hier einfache, anstrengende Tätigkeiten und dann gehen sie wieder.

Am 30. Oktober 1961 schloss die Bundesrepublik ein Anwerbeabkommen mit der Türkei. Die „Gastarbeiter:innen“ kamen und blieben. Bis heute prägen sie die bundesdeutsche Gesellschaft. Im Vorfeld des 60. Jahrestags des Abkommens erschien im August eine migrationshistorische Studie. „Vom Gast zum Gastwirt? Türkische Arbeitswelten in West-Berlin“ überschreibt der Potsdamer Historiker Stefan Zeppenfeld sein Buch.

Berlin steht bis heute für die Einwanderung aus der Türkei

Die Zahl türkischer Staatsangehöriger in West-Berlin wuchs durch die „Gastarbeit“ zwischen 1961 und 1973 von 200 auf 80.000. Auch nach dem Anwerbestopp 1973 steigt die Zahl weiter. Welchen beruflichen Tätigkeiten gingen die Arbeitsmigrant:innen nach? Und welche Möglichkeiten standen ihnen offen und welche neuen Tätigkeitsfelder schufen sie für sich selbst? Diesen Fragen stellte sich der Autor.

Berufliche Entwicklungen türkeistämmiger Eingewanderter in Berlin

Stefan Zeppenfeld untersucht den Wandel der türkischen Arbeitswelten von ihren Anfängen in den 1960er Jahren bis zur Wiedervereinigung. Sein Ausgangspunkt ist die »Gastarbeit« im industriellen Großbetrieb. Von dort spürt er in seiner Studie am Beispiel West-Berlins dem Übergang in andere Branchen nach. So eröffnete der öffentliche Dienst auch für Migrant:innen attraktive Aufstiegsmöglichkeiten. Trotzdem blieb der Weg in die gewerbliche Selbstständigkeit schwierig. Mitunter boten auch illegale Beschäftigungsformen alternative Verdienstmöglichkeiten.

Boomte die Wirtschaft, stellten die Betriebe Gastarbeiter vor allem für einfache Tätigkeiten ein. Kriselte die Wirtschaft, waren Gastarbeiter die ersten, die den Betrieb verließen.“

Stefan Zeppenfeld im Interview mit Deutschlandfunk Nova

Annäherung der Arbeitswelten

Türkische Arbeitswelten in West-Berlin und der Bundesrepublik näherten sich denen der Mehrheitsbevölkerung schrittweise an. Stefan Zeppenfeld beschreibt einen Normalisierungs- und Aufholprozess über mehrere Generationen. Einerseits gingen viele Arbeitsmigrant:innen dauerhaft einfachen und körperlich anstrengenden Beschäftigungen nach. Häufige Wechsel der Tätigkeiten und Arbeitgeber kennzeichnen ihre Erwerbsbiografien. Andererseits gelang nicht Wenigen noch vor dem Anwerbestopp von 1973 der dauerhafte Wechsel in renommierte und voraussetzungsvolle Berufe. Spätestens in den 1980er-Jahren beschleunigte die Kindergeneration den Aufholprozess. Sie konnten deutsche Schulabschlüsse und formale Berufsausbildungen vorweisen.

Türkische Arbeitswelten und eigenständiges Entscheiden und Handeln

Für seine Arbeit wertete Stefan Zeppenfeld besondere Archivalien aus. Um selbständige Gewerbe, wie etwa einen Gemüsehandel oder ein Übersetzungsbüro anzumelden, muss eine Gewerbe-Anmeldung hinterlegt werden. Mithilfe dieser An- und Abmeldungen rekonstruiert der Historiker, wie dynamisch und vielfältig das Berufsbild „Selbstständigkeit“ bei türkeistämmigen Menschen in West-Berlin war. Damit rückt Zeppenfelds Buch erstmals die Entscheidungen und das Handeln der Eingewanderten in den Fokus. Es verdeutlicht, dass weder politische Regulierungsversuche noch gesellschaftliche Abwehrreaktionen die berufliche Entwicklung von Türkeistämmigen gänzlich einschränken konnten.

Türkische Arbeitswelten in Westberlin. Online Vortrag

Für Deutschlandfunk Nova „Hörsaal“ hat Stefan Zeppenfeld einen Vortrag zu seinem Buch gehalten. Hier könnt Ihr Euch die spannenden 45 min online anhören.

Stefan Zeppenfeld: Vom Gast zum Gastwirt? Türkische Arbeitswelten in West-Berlin
ISBN 978-3-8353-5022-9
Ladenpreis: 39 Euro
Das Buch erschien im August 2021 im Wallstein Verlag


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Über den Autor

SEITEN:BLICK

arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. Der Begriff SEITEN:BLICK steht für die Blicke, die wir links, rechts und hinter "die Dinge" werfen wollen.

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