Mehr als vier Jahrzehnte wurde des Schicksal der rund 4,3 Millionen deutschen Vertriebenen, die aus den ehemaligen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und spätere Deutsche Demokratische Republik (DDR) gelangten, tabuisiert und ausgeblendet. Grund dafür waren politische und ideologische Gründe.
Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945-1950
Die Flucht und Vertreibung Deutscher aus den deutschen Ostgebieten und aus Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa umfasste große Teile der dort ansässigen deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen; betroffen waren runde 12 -14 Millionen Deutsche. Flucht und Vertreibung fanden während und nach Ende des Zweiten Weltkrieges von 1945 bis 1950 statt. Sie waren eine Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und Kriegsverbrechen und der Gebietsverluste des Deutschen Reiches, welche die Siegermächte nach 1945 festlegten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die sowjetisch besetzte Zone aufgrund ihrer geographisch nahen Lage zu Osteuropa mehr geflüchtete und vertriebene Deutsche aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie auf als die anderen Besatzungszonen. Das bedeutete für die SBZ eine enorme Herausforderung. 4.379.000 Geflüchtete und Vertriebene wurden zwischen 1945 und 1947 allein in der Sowjetischen Besatzungszone aufgenommen, das war ein Anteil von 24,3 Prozent an der Gesamtbevölkerung.
(Im Vergleich: Amerikanische Besatzungszone 2.957.000Geflüchtete und Vertriebene, 17,7 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung / Britische Besatzungszone 3.320.000 Geflüchtete und Vertriebene, 14,5 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung / Französische Besatzungszone 60.000 Geflüchtete und Vertriebene, 1,0 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung.)
Vertriebene und Einheimische
Die Aufnahme der mehr als vier Millionen Vertriebenen und Geflüchteten stellten die Sowjetische Militäradministration (SMAD), die Regierung der DDR sowie die alteingesessene Gesellschaft vor große Herausforderungen. Zum einen war die Infrastruktur durch den Krieg weitestgehend zerstört. Zum anderen musste eine immer größere Zahl an Vertriebenen aufgenommen werden. In der Aktennotiz einer Unterabteilung des Ministeriums des Innern der Provinz Brandenburg vom 12. Dezember 1946 heißt es dazu:
Ca. 1/3 des Wohnraums in der Provinz Brandenburg durch Kampfhandlungen zerstört. Trotzdem mussten 680.728 Umsiedler untergebracht werden. Aufteilung Wohnraum, dadurch erfährt Familienleben erheblich Beeinträchtigung. Führt zu einem nicht zu unterschätzenden gesundheitlichen Gefahrenherd. Nicht möglich Kranke zu isolieren, Übertragung ansteckender Krankheiten, Gefahr von Seuchengefahr.
Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep.203 MdI, Nr.1074. Zitiert in: Sven Olaf Oehlsen: Vertriebenenlager in Brandenburg 1945-1953. Herausgegeben von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 2006, S. 68.
Zunächst begegneten die Alteingesessenen den Neuankömmlingen überwiegend reserviert. Denn nicht nur für die Geflüchteten und Vertriebenen war diese Zeit eine Herausforderung. Zunächst wurde die Mehrheit der Vertriebenen im ländlichen Raum angesiedelt. Dort trafen sie auf homogene gesellschaftliche Strukturen. Die Unterbringung der Vertriebenen fand vor allem in bestehenden Wohnhäusern und Bauernhöfen statt. Die betroffenen Hausbesitzer und Landwirte akzeptierten die Maßnahmen oft nur widerwillig. Die lokale Bevölkerung musste für die neue Situation sensibilisiert werden.
So erstellte beispielsweise das Informationsamt der Provinz Brandenburg für Presse und Rundfunk Berichte mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Sie machten zum einen in der Presse auf die Notlage der Vertriebenen aufmerksam und appellierten an die Einsicht der Brandenburger, sich räumlich einzuschränken. Und zum anderen stellten sie der eingesessenen Bevölkerung im Rundfunk dar, wie Vertriebene produktive Arbeit leisten können.
Die Situation entschärfte sich erst im Laufe der 1950er Jahre durch den wirtschaftlichen Aufschwung in der DDR.
Eingliederung der Vertriebenen in den Arbeitsmarkt der DDR
Die politische Führung der SBZ und ab 1949 der DDR setzte bei der Integration bzw. Assimilation der Heimatvertriebenen von Beginn an auf deren Einbindung in die neue sozialistische Arbeitswelt. Der Staat brauchte die Menschen als Arbeitskräfte. Die Menschen brauchten Arbeit, um nach dem, Krieg und dem Verlust der materiellen Existenz Zukunftsaussichten zu entwickeln. Obwohl anfangs viele Vertriebene mangels Alternativen in der Landwirtschaft tätig wurden, zogen sie später in die Städte. Dort arbeiteten sie in den neu entstandenen Betrieben. Entscheidend waren die neuen Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie seit Beginn der 1950er Jahre.
So verschlug es viele vertriebene Fachkräfte aus der Bijouterie- und Glasherstellung aus dem böhmischen Gablonz in die SB/DDR. Die Landes- und Lokalpolitik unterstützte sie ausnahmsweise bei der Neugründung von Betrieben, denn sie erhofften sich davon Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Es entstanden drei Zentren der Bijouterie- und Glaskunst in Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt. So wurden z.B. in Neuheim (bei Jüterboger) ab 1945 288 Vertriebene aus dem Raum Gablonz angesiedelt. Ein Jahr später begannen die dort angesiedelten Gablonzer mit der Herstellung von Glasschmuck. 1950 wurde der Betrieb in „VEB Gablona Schmuckwaren“ umbenannt. Bis zur Wiedervereinigung arbeiteten 500 Fachkräfte für den Betrieb.
„Umsiedler“ oder „Vertriebene“
In den Medien und in der Öffentlichkeit in der SBZ und DDR durften nur die begriffe „Umsiedler“ oder „Neubürger“ benutzt werden. Tabu waren die Begriffe „Flüchtling“ oder „Vertriebener“. das war von der Sowjetischen Militäradministration bei der Gründung der „Zentralen Verwaltung für Umsiedler“ so angeordnet worden. Doch selbst der Begriff „Umsiedler“ wurde nach 1950 aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verbannt. Er hätte eine spezifische Gruppenidentität zum Ausdruck gebracht.
Vertriebene sollten assimiliert werden. Zugleich galten sie als potenzieller Unruhefaktor. Während im Westen die Vertriebenenverbände eine einflussreiche Gruppe bildeten, die auf die Ostpolitik des Bundeskanzlers Konrad Adenauer großen Einfluss hatte, setzte die Staatsführung der DDR auf sogenannte „Integration durch Partizipation am Aufbau einer neuen sozialistischen Heimat“. So wurde in der DDR versucht, durch Assimilation der Vertriebenen alle Erinnerungen an die alte Heimat zu unterdrücken – aus Angst vor Revanchismus, der sich gegen die neuen osteuropäischen Verbündeten gerichtet hätte. Nachbarstaaten wie Polen und Tschechien sollten als „Bruderstaaten“ und nicht als Vertreiber der deutschen Bevölkerung betrachtet werden.
Öffentliches Sprechen über Heimat und Flucht war in der SBZ und DDR tabu. Nur in der Familie konnte darüber erzählt werden. Doch das staatlich gewollte Schweigen hielt die Betroffenen nicht davon ab, miteinander im Kontakt und im Gespräch zu bleiben.
Kleine Heimattreffen in der DDR
Einigen ehemaligen Vertriebenen und Geflüchteten gelang es jahrzehntelang, in der DDR kleinere Heimattreffen zu organisieren. Diese wurden zumeist vom Ministerium für Staatssicherheit observiert. Bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 nahmen auch die Vertriebenen aus der DDR an Veranstaltungen der Vertriebenen in West-Berlin teil.
Zahlenmäßig kleinere Treffen fanden auch in der SBZ/DDR statt. Sie wurden als Klassentreffen, Ausflüge oder zufällige Begegnungen von Menschen der gleichen Herkunftsregion getarnt. Auch unter dem Dach der Kirche fanden solche Begegnungen statt.
So trafen sich beispielsweise alljährlich Vertriebene in der DDR heimlich im Zoo Leipzig oder im Hallenser Zoo. An diesen Treffen nahmen vor allem Sudetendeutsche und Schlesier teil. Sie fanden von Ende der 1940er bis in die 1980er Jahre statt. Zeitweilig nahmen etwa 2.000 Menschen an diesen Treffen teil. Der Staatssicherheit gelang es nie, bestimmte Personen als Initiatoren zu identifizieren und zu belangen.
Wanderausstellung „Stillgeschwiegen! Die Vertriebenen in der SBZ und DDR“
Wer mehr über Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR erfahren will, dem sei die Ausstellung „Stillgeschwiegen! Die Vertriebenen in der SBZ und DDR“ empfohlen. Die Wanderausstellung beleuchtet diesen Teil der deutschen Migrationsgeschichte. Sie gibt Auskunft über die historischen und politischen Hintergründe und lässt die Vertriebenen zu Wort kommen.
Die Wanderausstellung „Stillgeschwiegen! Die Vertriebenen in der SBZ und DDR“ ist eine Ausstellung der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibung“. Sie wird vom Bund der Vertriebenen präsentiert und kann dort gebucht werden unter: Bund der Vertriebenen, info@bdvbund.de, www.bund-der-vertriebenen.de
Vom 6. März – 20. April 2024 ist die Ausstellung in Berlin im Konferenzsaal des DDR-Museums zu sehen; St. Wolfgang Str. 2-4, 10178 Berlin-Mitte. Täglich 9 – 19:30 Uhr; Eintritt frei.
Titelbild: Deutsche Vertriebene aus den Ostgebieten, 1945. Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1985-021-09 / Autor/-in unbekannt / CC-BY-SA 3.0, Wikimedia gemeinfrei