Wie viele Russlanddeutsche, hat Dr. Ottilie Klein eine im wahrsten Sinne des Wortes bewegte Familiengeschichte. Ihre Vorfahren kamen aus Süddeutschland und folgten vor mehr als 250 Jahren dem Ruf Katharina der Großen ans Schwarze Meer. Die Großeltern wurden unter Stalin von Odessa und Dnjepropetrowsk hinter den Ural in den Osten des sowjetischen Staates deportiert.

Aufgewachsen in Zentralasien in Tadschikistan und Kasachstan, in der damaligen Sowjetunion, gelang es ihren Eltern Anfang der 1980er Jahre in die DDR und Ende 1983 in die Bundesrepublik auszureisen.

1984 geboren, wächst Ottilie Klein im Schwarzwald auf, studiert in Bonn, den USA und Oxford und promoviert in Helsinki und Gießen. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin und kandidiert für die CDU für den Deutschen Bundestag im Wahlkreis Berlin-Mitte – der Ort, durch den einst die Mauer verlief und der wie kein anderer für die Einheit von Ost und West steht. Hier erzählt sie ihre Geschichte. 

Gemeinschaft in der Community

Russlanddeutsche fühlten sich lang heimatlos, berichtet die CDU-Bundestagskandidatin Frau Dr. Ottilie Klein.
Foto: Annette Koroll

Lange Zeit wusste ich nicht wie Spargel schmeckt. Denn bei uns kamen eher Pelmeni, Schaschlik und Bliny auf den Tisch. Bei Familienfeiern kam gefühlt die gesamte Verwandtschaft zusammen, inklusive aller Tanten und Onkel.

Wir Kinder standen meist im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auch wenn wir nicht viel hatten, kleine Geschenke gab es für die Kleinen immer. Wenn mein Vater mit seinem Akkordeon zu musizieren begann, spielte er russische Lieder.

Die Großeltern berichteten vom schlimmen Leid in der Zeit der Deportation, von Arbeitslager, Hunger, Kälte und Tod. Das gesprochene Deutsch war eine Mischung aus dem altertümlichen Deutsch der Vorfahren, eingedeutschtem russisch-sowjetischen Vokabular und schwäbischem Dialekt.

Kulturelle Heimatlosigkeit

So divers ihre Sprache, so zwiespältig sind die Gefühle vieler Russlanddeutscher zur Bestimmung ihrer Heimat. In der Sowjetunion wurden sie „die Deutschen“ geschimpft, als „Faschisten“ diffamiert und aufgrund ihrer Deutschstämmigkeit, die im Pass vermerkt war, diskriminiert.

Die meisten haben die deutsche Sprache und Traditionen dennoch gepflegt. Im Heimatland ihrer Vorfahren angekommen, waren sie plötzlich „die Russen“ – ein Treppenwitz der Geschichte. Viele fühlen sich auch heute noch kulturell heimatlos.

Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, in Deutschland anzukommen ist schwerer als gedacht. Und so prallen an russlanddeutschen Küchentischen teilweise immer noch Ost und West aufeinander.

Über Umwege zu den Wurzeln

Das Ost-West-Thema beschäftigt mich auch aus einem anderen Grund: Meine Eltern sind Anfang der 1980er unter großen Schwierigkeiten aus der Sowjetunion in die DDR ausgereist. Zu diesem Zeitpunkt ahnten sie nicht, mit welchen Widerständen sie auch dort zu kämpfen haben würden.

Es war der Wunsch nach Freiheit, der meine Eltern dazu bewog, alles daran zu setzen, nach Westdeutschland auszureisen, was Ende 1983 gelang. Wenige Monate später bin ich im Schwarzwald zur Welt gekommen und meine Familie hat in der neuen Heimat wieder bei null angefangen.

Damit die Kinder es einmal besser haben

Was viele Menschen mit Zuwanderungsgeschichte miteinander verbindet, ist der Wille, ihren Kindern die Möglichkeit auf ein gutes Leben zu bieten. Bei vielen Russlanddeutschen wurden die Ausbildung und akademische Abschlüsse der Sowjetunion nicht anerkannt – so auch bei meinen Eltern. Dennoch haben die meisten die Ärmel hochgekrempelt und bereitwillig jegliche Arbeiten, auch weit unter ihrer Qualifikation, angenommen.

Gekommen, um zu bleiben

Trotz der Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen haben es die Russlanddeutschen geschafft, sich und ihre Familien in Rekordzeit in Deutschland zu beheimaten – eine echte Integrations-Erfolgsgeschichte und große Lebensleistung.

Ich bin als erste in meiner Familie in Deutschland geboren und identifiziere mich deshalb auch als Deutsche. Die russlanddeutsche Familiengeschichte bleibt aber stets ein Teil von mir.

Einigkeit, Recht und Freiheit

Als Nachkommin dieser Bevölkerungsgruppe, die einst von Bundeskanzler Helmut Kohl nach Deutschland eingeladen wurde und die in der Vergangenheit so viel Leid erleben musste, empfinde ich Stolz, heute im Wahlkreis Berlin-Mitte, wo mit dem Sitz des Bundestages das Herz der deutschen Demokratie schlägt, als Bundestagskandidatin anzutreten.

Nicht zuletzt aufgrund meiner Familiengeschichte und meiner internationalen Vita bin ich überzeugt, für alle Menschen in Berlin-Mitte einstehen zu können – egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, egal, ob „Ost“ oder „West“.

Echte Perspektiven

Meine Geschichte zeigt: Deutschland bietet viele Möglichkeiten. Ich denke, wir sollten als Gesellschaft mehr über die Chancen unseres Landes sprechen und jene ermuntern und fördern, die sich einbringen wollen. Für eine starke Gemeinschaft, in der die Menschen miteinander füreinander einstehen.

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

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