Wenn wir Menschen unsere Heimat verlassen, um uns an einem anderen Ort niederzulassen, reisen wir nie ohne Gepäck. Die Orte, in denen wir aufwachsen, die Personen, die uns geprägt haben, begleiten uns: Oft in Form von Gegenständen und den damit verbundenen Erinnerungen. In diesen Beiträgen erzählen Menschen über die Gegenstände, die sie mit ihrer Heimat verbinden.

Zuwanderungsgeschichten

Kaum eine andere Stadt in Deutschland ist so durch das Thema Migration geprägt wie Wolfsburg. Den Gegenständen, die die Zuwanderungsgeschichten hinterlassen haben, widmete sich das „Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ in Wolfsburg.

Die Autoren Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski veröffentlichten die entstandenen Interviews in ihrem Sammelband: Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs.

Polen: Die Fibel – Sylvia M. erinnert sich

Sylvia M.s Fibel. Foto: Ansgar Wilkendorf

Mit dieser polnischen Fibel lernte ich in der ersten Klasse lesen und schreiben. Für mich nimmt sie einen besonders hohen emotionalen Stellenwert ein, da sie in meinem Leben einen neuen Anfang markierte, vielleicht sogar den wichtigsten von allen: den Schulanfang. Mit ihm wird die Grundlage für all das Kommende gelegt wie auch für das, wonach man strebt.

Lesen und Schreiben zu können gibt einem Sicherheit und Stabilität für die Zukunft. Diese Grundtechniken erscheinen mir wie ein Fundament beim Hausbau: Ist es nicht solide gearbeitet, wird das Gebäude instabil. Aus diesem Grund erinnere ich mich noch genau an meine Einschulung im Jahre 1958 in Gliwice, einer Stadt in der polnischen Woiwodschaft Schlesien.

Sind mir inzwischen auch viele Namen meiner Mitschülerinnen und Mitschüler entfallen, so ist mir der meiner ersten Lehrerin, Frau Kula, noch immer präsent. Sie unterrichtete uns von der ersten bis zur vierten Klasse in allen Fächern und war besonders herzlich, aber auch streng. Auch wenn es schwierig wurde, übte sie mit großer Ausdauer mit uns weiter. Sehen Sie, wie prägend diese ersten Jahre des Lernens sind?

Seit meinem ersten Schuljahr lag diese Fibel immer auf meinem Schreibtisch. Im Gegensatz zu vielen anderen Schulbüchern zog ich sie aus meiner Tasche, weil ich es wollte, andere dagegen, weil ich es eben musste.

Erstmals im Jahre 1910 erschienen, diente die Fibel als Lehrbuch für zahlreiche Generationen von Schulkindern, so auch später noch für meinen Sohn. Über einen Zeitraum von nahezu einhundert Jahren hat es nur sechs oder sieben Neuauflagen dieses Elementarbuches gegeben, womit sie die am längsten benutzte Fibel der Welt ist.

Einige Veränderungen und doch der gleiche Fokus

Natürlich hat es seitdem einige Änderungen gegeben, doch ist ihr Grundaufbau erhalten geblieben. Dies liegt auch daran, dass in Polen, anders als in Deutschland, nur wenige Rechtschreibreformen durchgeführt wurden. Die Sprache veränderte sich in meinem Heimatland meist dann, wenn es zu größeren politischen Umwälzungen kam. Auch meine Fibel ist von diesen Entwicklungen nicht verschont geblieben. Deutlich wird dies mit Blick auf die letzte Seite, auf der „unsere Freunde“ abgebildet sind: fahnenschwenkende Arbeiter aus sozialistischen Staaten wie Albanien, der Sowjetunion, Ungarn oder der DDR.

Dennoch liegt der Fokus meiner Fibel nicht auf dem Politischen, sondern auf dem Sprachlichen. Besonders bemerkenswert ist, wie schnell von einzelnen Buchstaben zu kleineren Wörtern und Sätzen übergegangen wird.

Zudem liegt das besondere Augenmerk auf dem Schriftlichen, weshalb Schülerinnen und Schüler der ersten Klasse mit der Schreib- und nicht der Druckschrift begannen. Kalligraphie stand auf der Tagesordnung, auch das Schönschreiben wird den Lernenden in dieser Fibel noch vermittelt. Eine weitere Besonderheit sind die integrierten kurzen Texte berühmter polnischer Schriftsteller wie etwa des Lyrikers Julian Tuwims, den man mit Heinrich Hoffmann von Fallersleben vergleichen könnte.

Als ich im Dezember 1986 Polen verließ, konnte ich allein ein oder zwei Koffer mitnehmen. Natürlich habe ich in diesen wichtige Dokumente verstaut, jedoch auch Dinge, die ich nicht zurücklassen konnte, da mein Herz an ihnen hing. Zu diesen zählte auch meine Fibel.

Die Verfasser

Der vorliegende Text entstammt dem Band: Alexander Kraus, Aleksandar Nedelkovski (Hg.), Mitgebracht, Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs. ecrivir Verlag, Hannover 2020. Er wurde in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation“ der Stadt Wolfsburg an dieser Stelle veröffentlicht.

Die Interviews wurden durch Aleksandar Nedelkovski geführt, die Texte wurden von Alexander Kraus verfasst. Das Foto der Fibel nahm der Fotograf Ansgar Wilkendorf auf.

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

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