Letzter Halt: Naushki

Olga Tidde wurde als Kind eines Russlanddeutschen in Kasachstan geboren. Sie wuchs in Naushki/Sibirien auf, dem letzten Halt der Eisenbahn vor der mongolischen Grenze. Heute lebt Olga Tidde in Halberstadt, Sachsen-Anhalt. Sie arbeitet als Projektkoordinatorin im Projekt „Von Diaspora zur Demokratie. Russischsprachige Community lernt Beteiligung und Toleranz“ beim Förderverein der Deutschen aus Russland Sachsen-Anhalt e.V.. Außerdem ist sie freiberufliche beeidigte Dolmetscherin und Übersetzerin. Kürzlich schloss sie ein weiteres Studium mit dem Master in Public Management ab.

„Schublade“, „Kuchen“ und Weihnachten

Von Naushki sind es fast 6.000 km bis nach Moskau. Olga genoss in dem kleinen Ort, der um einen Militärstützpunkt herum entstand, eine sehr gute Schulbildung. Die Ehefrauen der Offiziere arbeiteten dort als Lehrerinnen. Die meisten von ihnen hatten wissenschaftliche Universitätsabschlüsse. In Ermangelung anderer Arbeitsplätze waren die Stellen in der örtlichen Schule sehr beliebt. Olga war eine sehr gute Schülerin und bei den Pionieren aktiv. Dass sie anders war, zeigte sich darin, dass ihre Großeltern deutsch sprachen. Olga wusste, was eine „Schublade“ und was ein „Kuchen“ ist und dass man am 24. Dezember heimlich Weihnachten feiert. Über die Deportation der Großeltern und Eltern wusste sie damals nichts. Ihr Name war anders. Sie und ein Klassenkamerad namens Eichler, ebenfalls deutschstämmig, mussten in den Kriegsspielen der Kinder der Nachkriegsgeneration immer die „Deutschen“ spielen. Aber ernsthafte Gedanken darüber, was an ihr eigentlich anders war, machte sie sich erst viel später.

Strudel mit Sauerkraut – das Geschenk der Russlanddeutschen

Olga kocht gern ein Gericht, das – wie sie herausfand – im 17. Jahrhundert in Deutschland gekocht wurde. Strudel mit Sauerkraut. Die Russlanddeutschen konservierten alte Kultur und Sprache, und diese haben sie als Geschenk wieder zurück nach Deutschland gebracht.

Eine mehrfache Zugehörigkeit ist möglich und bereichernd!

Aber dies ist es nicht allein, was Olgas Identität ausmacht. Obwohl sie sich in Deutschland zu Hause ist und sich selbst als Deutsche fühlt, ist ihr die russische Kultur sehr wichtig. Russische Literatur im Original lesen, russische Lieder singen und die russische Sprache und Gastfreundschaft gehören genauso zu ihr. Keine der beiden Teile ihrer Identität möchte und kann sie missen.

Aufarbeitung der Geschichte der Deportationen

Im letzten Jahr starb ihr Opa mit 94 Jahren in Deutschland. Man fand seine Tagebücher, die sehr weit zurückreichen. Dies nahm Olga zum Anlass, sich noch einmal detailliert mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Sie erfuhr viele schmerzliche Einzelheiten eines mühsamen Lebens. So hatte ihre Oma während einer Hungersnot einmal eine Flasche Sonnenblumenöl gefunden. Sie war so hungrig, dass sie die Flasche öffnete und mehrere Schlucke des Öls trank. Anschließend war ihr so übel, dass sie in ihrem ganzen Leben nie wieder Sonnenblumenöl anrührte. Mitten im Winter wurden die Großeltern (die damals 14, 15 Jahre alt waren) aus ihren Häusern gejagt. Weil sie ihre Federbetten mitgeschleppt hatten, erfroren sie nicht. Olga spürt, dass all diese Geschichten aufgearbeitet werden müssen, damit sie und die folgenden Generationen Ruhe finden können.

„Was seid ihr denn für Deutsche, warum sprecht ihr kein Deutsch?“ Identitätsfragen der Russlanddeutschen

1995 kam Olga Tidde nach Deutschland. Als sie einen Deutschkurs besuchte, lernte sie sehr schnell. Es kam ihr vor, als habe sie all die Vokabeln bereits einmal gekannt und müsse sie nur auffrischen. Woher kam das? Im Gespräch mit ihrer Mutter erfuhr sie, dass sie bis zum Alter von vier Jahren sehr oft bei ihren Großeltern war, die Deutsch sprachen. Im Kurs begegnete sie jüdischen „Kontingentflüchtlingen“ aus der ehemaligen Sowjetunion. Diese machten sie darauf aufmerksam, dass sie es befremdlich fänden, dass sie, die als Deutsche gelte, Deutsch erst in einem Sprachkurs erlernte. In der neuen Umgebung wurde sie meist als russisch gesehen, und so begann sie, sich selbst zu fragen, wer sie sei.

Verlorene Potentiale der Russlanddeutschen

Weil die Russlanddeutschen als Deutsche galten, wurde für sie (außer Sprachkursen) kein besonderer Integrationsbedarf festgestellt. Aber ihre Abschlüsse wurden nicht anerkannt. Das erlebten viele Migrant*innen und auch „Kontingentflüchtlinge“. Atomphysiker lebten vom Sozialamt, Lehrerinnen hatten (und haben) absolut keine Chance, in den Schuldienst einzusteigen. Dies hinterließ bei vielen das Gefühl, dass sie zwar eingeladen worden waren, aber dennoch nicht gewollt waren und nicht gebraucht wurden. Olga versucht, ihre Erfahrungen an neu kommende Migrant*innen weiterzugeben. Sie appelliert an die Community, nicht „schmollend in der Ecke zu sitzen“, sondern immer weiterzumachen in dem Versuch, gemeinsam eine lebenswerte Gesellschaft aufzubauen.

Olgas Tiddes Tipp: Das Museum für russlanddeutsche Geschichte in Detmold

Olga Tidde ist Vorstandsmitglied des LAMSA e.V., dessen beide Geschäftsführer*innen Mamad Mohamad und Mika Kaiyama – hier ebenfalls porträtiert wurden.

Über den Autor

Anja Treichel

… hat schon zu DDR-Zeiten beschlossen, nicht wegzugehen, wenn die Herausforderungen groß sind, sondern zu bleiben, um Veränderungen zu bewirken … hat aktiv an der Demokratiebewegung in der DDR teilgenommen und war später schockiert von der entfesselten Gewalt gegen Migrant*innen und alle, die „irgendwie anders“ waren … begann nach dem „Aufstand der Anständigen“ 2000 in der Beratung von Betroffenen rechter Gewalt in Wurzen/Sachsen zu arbeiten … war von 2005 bis 2017 Geschäftsführerin und Beraterin beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig … war von 2017 bis 2020 beim Landesnetzwerk Migrantenorganisationen in Sachsen/Anhalt tätig … und von 2020 bis Mai 21 beim Dachverband der Migrantenorganisationen in Ostdeutschland (DaMOSt) … arbeitet seit 1996 freiberuflich als Coachin, Beraterin, Fortbildnerin … seit Juni 2021 beim Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen für Bildung & Teilhabe (bbt).

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