Seit 1979 gibt es das internationale Drehorgelfest in Berlin. Das Drehorgelspielen und -bauen hat in Berlin eine lange Tradition. Zu der wäre es aber vielleicht nie gekommen, hätten nicht ab Mitte des 19. Jahrhunderts italienische Immigranten darin eine wichtige Einkommensquelle gefunden.
Vom 9. Juni 2023 bis zum 19. Oktober 2025 präsentiert das Stadtmuseum Berlin-Pankow, Standort Prenzlauer Allee, die Geschichte der italienischen Orgelbauer und Musikanten in der deutschen Hauptstadt. „Musica di Strada“ verbindet Hintergrundwissen rund um mechanische Musikinstrumente mit spannenden Migrationsgeschichten.
Berliner Drehorgeln
Straßenbahnen, Autos, Pferdekarren, laute Menschenmengen und über all dem ein gemächliches Leierkastenspiel – damit tauchen Besucher:innen der Ausstellung „Musica di Strada“ in das Berlin der späten Kaiserzeit ein. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gehören Leierkastenspieler – in den allermeisten Fällen Männer – zu den präsentesten Straßenmusikanten Berlins. Mit ihrer Drehorgel spielen sie in Hinterhöfen, an Straßenecken und auf öffentlichen Plätzen. Dafür stecken ihnen Anwohner:innen und Passant:innen Geldmünzen zu.
Für die Musikanten ist das Drehorgelspiel kein Hobby oder ein kleiner Nebenverdienst nach Feierabend. Bis zur Jahrhundertwende stellen Italiener aus ärmlichen Verhältnissen die Mehrzahl der Drehorgelspieler in Berlin dar. Sie haben das Drehorgelspielen in Berlin verbreitet und verdienen damit ihr tägliches Brot. Das geht so lange, bis ihnen die Behörden nach und nach die notwendige Auftrittsgenehmigungen verwehren und stattdessen an deutsche Kriegsinvaliden vergeben.
Italienische Migration im 19. Jahrhundert
Wie ist es aber überhaupt zur italienischen Einwanderung nach Berlin gekommen? Mitte des 19. Jahrhunderts sind die Lebensbedingungen für viele Menschen in Italien hart. Die Armut bewegt sie zur Migration. Dabei sind es nicht immer lebensbedrohliche Umstände, die zur Migration führen. Einzelne Ausreisende leben jedoch Möglichkeiten vor, wie sie in der Fremde ihren Lebensstandard verbessern können. Daraufhin ziehen Verwandte und Bekannte nach. Allein zwischen 1876 und 1914 verlassen etwa 14 Millionen Menschen das Land. Dabei handelt es sich bei etwa der Hälfte um männliche Arbeitsmigranten, die nach einer begrenzten Zeit im Ausland wieder nach Italien zurückkehren. Die Migranten, die dauerhaft auswandern, stellen also nur einen Bruchteil der italienischen Migrationsbewegung dar. Erst Jahre nach ihrer Ankunft im Ausland holen sie auch ihre Familien zu sich. Ihre Frauen erfüllen dabei sowohl im Heimatland als auch in der neuen Bleibe die Rolle als Hausfrau und Mutter. Das Berufsleben bleibt fast ausschließlich Männern vorbehalten.
Leben und Arbeit der Italiener in Prenzlauer Berg
Ein Zielort für etwa 1.2 Millionen Italiener:innen dieser Zeit ist das Deutsche Kaiserreich. Sie lassen sich unter anderem in der preußischen Hauptstadt nieder, genauer in dem Viertel Prenzlauer Berg. Dort sind sie unter anderem als Handwerker, Händler und Gastwirte tätig. Vor allem Stuck- und Terrazzofirmen, der Handel mit Südfrüchten und Eisdielen sind eine wirtschaftliche Nische, in der die immigrierten Unternehmer zunächst keine große, einheimische Konkurrenz fürchten müssen.
Diejenigen aber, die mit nahezu keinem Startkapital angekommen sind, können sich nur schwer ein eigenes Geschäft leisten und bekommen oft keine Anstellung. Vor allem Männer aus den Gegenden zwischen Parma, Genua und der Toskana verdienen sich ihren Lebensunterhalt fortan auf der Straße. Entweder sie verkaufen Früchte und kleine Kunstgegenstände als fliegende Händler oder sie geben mit dressierten Tieren und Drehorgeln öffentliche Darbietungen. Auch italienische Kinder werden quer durch Europa geschickt, um auf der Straße Geld zu verdienen.
Vom Drehorgelspiel zum Drehorgelbau
Die italienischen Drehorgelspieler sind den deutschen Behörden ein Dorn im Auge. Anders als angesehene, italienische Geschäftsleute mit entsprechendem Einkommen haben die ärmlich aussehenden Straßenmusikanten keinen guten Ruf. Dabei hat sich hinter dem Drehorgelspiel der Italiener in Berlin bereits eine kleine Industrie entwickelt. Italiener spielen nicht nur Drehorgeln auf der Straße. Es gibt auch Anlaufstellen, die sich auf das Vermieten der teuren Instrumente spezialisiert haben. Darüber hinaus ist das Bauen von Drehorgeln eine italienische Domäne.
1877 eröffnet in Berlin-Prenzlauer Berg eine der ersten Drehorgelwerkstätten der Stadt. Betrieben wird sie von zwei italienischen Männern aus ärmlichen Verhältnissen: dem Drehorgelbauer Chiaro Frati und seinem Bekannten Giovanni Battista Bacigalupo. Letzterer gründet wenige Jahre nach dem Ende dieses ersten Unternehmens Mitte der 1980er Jahre mit dem Orgelbauer John Cocchi und dem Kaufmann Antonio Graffigna eine zweite, größere Werkstatt für mechanische Musikinstrumente. Die Firma Cocchi, Bacigalupo & Graffigna wird ein voller Erfolg. Zwischen 1891 und 1903 baut und verkauft das Unternehmen Drehorgeln jeder Größe und Art. Abnehmer:innen finden sie hierfür nicht nur im örtlichen Berlin, sondern auf der ganzen Welt, vor allem jedoch in den USA, Mexiko und Südamerika.
Das Ende der Drehorgeln?
Im Laufe der 1920er und 1930er Jahre lässt die Nachfrage nach mechanischen Musikinstrumenten immer weiter nach. Darunter fallen Drehorgeln, ebenso wie verschiedene „Musikautomaten“, selbstspielende Klaviere, die nur mit zwei Pedalen betrieben werden und vieles mehr. Wer jetzt auf die – vergleichsweise – einfache Art Musik hören und (ab-)spielen möchte, besorgt sich eines der aufkommenden elektrischen Wiedergabegeräte. Mit der Nachfrage verkleinert sich auch das Drehorgelgeschäft in Berlin.
Zunächst verlegen sich die Werkstätten nur noch auf das Reparieren und den Verleih alter Drehorgeln. 1978 stirbt mit dem letzten Drehorgelbauer aus der Familie Bacigalupo das italienische Geschäft mit den Drehorgeln in Berlin. Die Tradition lebt jedoch weiter: Seit den 1970er Jahren finden sich immer wieder Drehorgelfreunde in Deutschland zusammen. Der Leierkasten wird vom einfachen Straßeninstrument zum begehrten Sammlerstück.
Italienisch, deutsch, chilenisch? Drehorgeln in Übersee
Mit dem vermehrten Export nach Amerika hat auch dort das Drehorgelspiel an Einfluss gewonnen. Nach Streitigkeiten innerhalb der Familie wandert ein Sohn Giovanni Bacigalupos in die USA aus und gründet eine eigene Firma zum Bau von Drehorgeln.
Eine besondere Bedeutung kommt dem Drehorgelspiel aber bis heute in Chile zu. Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt der Chilene Héctor Lizana Gutiérrez importierte Drehorgeln der Firma Cocchi, Bacigalupo & Graffigna zunächst zu reparieren, dann nachzubauen. Außerdem entwickelt er das Drehorgelspiel weiter. In Begleitung mit mehreren Trommeln und einem selbsterfundenen Tanz wird Gutiérrez mit seinen Drehorgeln in ganz Chile bekannt. Heute zählt der besagte Chinchinero Tanz zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe.
Eine Ausstellung zum Staunen und Zuhören
Was aber ist denn nun überhaupt eine Drehorgel? Viele kennen das Instrument als Leierkasten mit Kurbel und Flöten. Wie genau es gespielt wird, welche Technik dahinter steckt – diese und weitere Fragen konnte ich persönlich vor dem Besuch der Ausstellung nicht beantworten. Aber auch darauf liegt ein Fokus der Ausstellung „Musica di Strada“. Neben historischen Fotografien, biografischen Einblicken, Interviewaufnahmen mit Nachkommen und Expert:innen präsentiert das Museum sämtliche mechanische Musikinstrumente. Dabei handelt es sich um eine Leihgabe des Märkischen Museums Berlin, das sich zur Zeit im Umbau befindet.
Umso besser, dass das breite Sortiment an „klassischen“ Drehorgeln bis hin zu großen selbstspielenden Klavieren und nicht zuletzt dem eindrucksvollen Orchestrion Fratihymnia der Firma Cocchi, Bacigalupo & Graffigna so lang in Pankow zu sehen ist. In öffentlichen Vorstellungen und Führungen können Besucher:innen die Instrumente live erleben und sich zum Teil selbst im Drehorgelspielen üben. Wer jedoch mit Musikinstrumenten an sich wenig anfangen kann, dem wird zumindest ein spannender Teil Berliner Migrationsgeschichte nähergebracht.
Titelbild: Der Ausstellungsflyer mit historischem Foto eines Drehorgelspielers. Eigenes Foto.