2021 war das Jahr der Identitätspolitikdebatte. Ausführlichst wurde sich über Begriffe wie alte weiße Männer, Cancel Culture und kulturelle Aneignung ausgelassen, die zu Schlagworten einer identitätspolitischen Agenda erklärt wurden. Dabei zeichneten zahlreiche journalistische Beiträge das Bild einer Gesellschaft der Polarisierungen und Machtkämpfe. Losgelöst von den Argumenten lohnt es sich einmal die Dynamiken dieser Debatte zu betrachten. Eine Möglichkeit dazu bietet z das Buch „Kollektive Identitäten“ von Heike Delitz, das den Prozess und die Merkmale kollektiver Identitätsbildung näherbringt.
Identität dekonstruiert
Statistisch betrachtet wächst der Wunsch nach kollektiver Zugehörigkeit in Europa stetig. Dabei sind die Rahmen dieser Identität variabel. Während eine erstarkende Rechte nationale Identität als Projektionsfläche eigener Wünsche und Werte manifestiert, definieren sich liberale Stimmen vermehrt durch eine supranationale z.B. europäische Zugehörigkeit. Delitz spricht all diesen kollektiv geteilten Identitäten ihre als homogen konstruierte Realität ab, ohne jedoch ihre Notwenigkeit für ein gesellschaftliches Miteinander zu leugnen.
„Keiner hat das Volk je gesehen oder die Freiheit als solche erfahren, ebenso wenig wie die Gleichheit.“
Während also die Dehnbarkeit des Identitätspolitikbegriffes als Beweis für eine mangelnde Auseinandersetzung mit seinen Inhalten interpretiert wird, beweist diese jedoch zunächst einmal lediglich das Paradox kollektiver Identitäten. Denn obwohl diese eben als imaginär und kontrafaktisch betrachtet werden, macht erst ihre Konstruktion gesellschaftliche Fragen auch kollektiv verhandelbar.
Wir und die Anderen
Identitätsbildung kollektiver Einheiten kann als dynamischer Grenzziehungsprozess verstanden werden. Dabei wird der Wertekanon des eigenen Kollektivs stets durch die Abgrenzung zu anderen festgelegt. Da Realitätsbetrachtungen in Demokratien jedoch stätig im Wandel und durch Diskurse herausgefordert werden, bleibt der Komfort eines Status quo aus. Delitz beschreibt jegliche kollektive Identität als inhaltlich wandelbar.
Identitätspolitik von überall
Kollektivistische Bewegungen werden gern durch ihre Zuordnung zu extremen politischen Lagern delegitimiert. Dabei macht diese vereinfachte Betrachtung jedoch laut Delitz blind für die eigene Identitätspolitik. Als Beispiel können hierbei etablierte Verweise zu freiheitlich westlichen Werten aufgeführt werden. In diesem Kontext verweist Delitz auch auf Merkels Asylpolitik, welche sie durch einen humanitären Wertekanon und die Hervorhebung der Menschenwürde legitimierte. Laut Delitz müsse auch diese Argumentation als Identitätspolitik verstanden werden.
„Kollektive Identitäten“
„Kollektive Identitäten“ ist eine durchaus fordernde Auseinandersetzung mit den Konzepten individueller als auch kollektiver Identität. Dabei bietet es ein Spektrum von soziologischen Perspektiven an, welche tief verankerte Dogmen alltäglicher Interaktion fragwürdig erscheinen lassen. Diese Einladung zur Reflexion eigener Glaubenssätze und Zugehörigkeitsgefühle entfaltet das Potential einer toleranteren und zugleich kritischeren Verhandlung gesellschaftlicher Diskurse.
Heike Delitz: Kollektive Identitäten, erschienen 2018, 160 Seiten
ISBN: 978-3-8376-3724-3