Wenn ich gefragt werde, wie es zur Ausstellung „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ kam, beginne ich meinen Antwort gerne mit: „Das war alles nicht geplant!“ Noch immer staune ich, was aus einer kleinen Interview-Idee im Ehrenamt entstanden ist: eine Portraitserie in der Tageszeitung mit 43 Folgen, eine mehrfach ausgezeichnete und bundesweit bereits 150-mal präsentierte Wanderausstellung und als berufliches Folgeprojekt, „Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“. Die entstandenen Interviews und Videos werden von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland archiviert und sukzessive im Zeitzeugen-Portal online präsentiert. Drumherum entwickelten sich in den vergangenen acht Jahren viele berührende Begegnungen, überraschende Ereignisketten und neue Projekte.

Geflüchtete Menschen fallen im Stadtbild auf

Aber von Anfang an: Mein persönlicher Bericht beginnt im Sommer 2015 in Haltern am See, einer Stadt mit 39.000 Einwohnern am nördlichen Rand des Ruhrgebiets. Dort lebe ich mit meiner Familie und arbeitete damals als freie Journalistin. Ehrenamtlich engagierte ich mich im Willkommenscafé des Asylkreises Haltern am See und brachte geflüchteten Kindern in einer Grundschule erste Worte der deutschen Sprache bei. 
In Haltern war der Anteil an Ausländern recht gering und so fielen die Fremden im Stadtbild auf. Aber waren es wirklich Flüchtlinge? Was hatte sie aus ihrer Heimat vertrieben? Wie „geht“ Fliehen überhaupt? Und wie ist es, in Deutschland und in unserer Stadt anzukommen? Das hätte ich gerne gefragt, traute mich aber nicht, aus Angst Retraumatisierungen auszulösen.

Geflüchtete Menschen wollen von sich erzählen

Das änderte sich mit nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln. Ab da kippte die Willkommenskultur gegenüber Geflüchteten und es hieß immer häufiger „die Flüchtlinge“, pauschal, anonym und häufig negativ. Dies deckte sich nicht mit den bereichernden Erfahrungen, die ich mit geflüchteten Menschen im Willkommenscafé machte. Wann, wenn nicht jetzt, war es an der Zeit, Gesichter zu zeigen? Ich fragte Suleiman und Fida, ob sie sich vorstellen könnten, ihre Fluchtgeschichte zu erzählen und mit Bild in der Zeitung zu erscheinen. Riesig war mein Erstaunen über ihre direkte Zusage, denn ich empfand es als sehr mutig, sich so öffentlich zu positionieren. Direkt fuhr ich zum Fotostudio Augenblick und fragte Jennifer Grube, ob sie die Geflüchteten ehrenamtlich portraitieren würde. Auch hier erhielt ich eine Zusage, ebenso von der Halterner Zeitung, die Geschichten abzudrucken.

Geflüchtete Menschen als Personen, nicht als „Probleme“ wahrnehmen

Für Fida und Suleiman hatte ich einen kurzen Fragebogen entwickelt, der es ihnen erleichtern sollte, ihre Geschichte aufzuschreiben. Was ich dann las, traf mich mit voller Wucht. In einfachstem Deutsch beschrieben sie furchtbare Überfälle, Vertreibung, Morde von Familienangehörigen, Ängste und ihre Hoffnungen für die Zukunft. Ihre Erlebnisse waren bei unseren Treffen im Café nie ein Thema gewesen. Dort ging es eher um konkrete Hilfe bei der Bewältigung des neuen Alltags. Den beiden und den nachfolgend Interviewten bedeutet es sehr viel, abseits der herausfordernden Interviews beim Bundesamt für Migration nach ihrer Geschichte gefragt zu werden. Sie fühlen sich als Person wahrgenommen, nicht als „Problem“.
Mit Herzklopfen erwarteten wir im März 2016 das erste Portrait in der Halterner Zeitung. Wie würden die Menschen auf die Serie reagieren? Würde es Anfeindungen geben? Das Gegenteil war der Fall! Die Portraits halfen, Vorurteile abzubauen und erste Schritte auf die neuen Nachbarn zuzugehen. Ihnen wurden Wohnraum, Praktika und Jobs angeboten. Als ich nach einigen Wochen auch deutsche Flüchtlinge und Vertriebene ins Projekt aufnahm, lenkten sie den Blick auf die deutsche Geschichte. Dieser Umweg stellte noch mehr Nähe zu den aktuell geflüchteten Menschen her.

Plakate? Nein, wir entwickeln eine Wanderausstellung!

Im Sommer 2026 fragte der Caritasverband an, ob man die Portraits anlässlich des 100-jährigen Verbandsjubiläums ausstellen könne. Da ich nicht wusste, wie ich die Geschichten attraktiv auf DIN-A2-Plakaten darstellen könnte, wandte ich mich an die Agentur „Gute Botschafter“. Wieder geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: Die Fachleute waren so begeistert von der Idee, dass sie das Design für 20 Roll-Ups spendierten. Damit konnten wir 19 Fluchtgeschichten erzählen und ein Erklärbanner gestalten. Das Land NRW mit dem Projekt „Komm-An-NRW“ und der Caritasverband für die Diözese Münster e.V. teilten sich die Druckkosten. Und so gelangten wir recht unverhofft und in Windeseile an eine Wanderausstellung, die am 1. September 2016 eröffnet wurde. Seitdem tourt sie in zweifacher Ausfertigung bundesweit durch Schulen, Büchereien, Volkshochschulen, Justizvollzugsanstalten, Polizeidirektionen, Kirchengemeinden, Rat- und Kreishäuser, Begegnungszentren und Wohlfahrtsverbände und wird in der Bildungs- und Demokratiearbeit genutzt. Ich band Suleiman, Fida und andere Interviewpartner*innen bei Ausstellungseröffnungen ein, baute eine Facebook- und eine Internetseite auf und entwickelte Begleitmaterial. Das Projekt wurde im Jahr 2017 mit folgenden Preisen ausgezeichnet: Ehrenamtspreis des Bistums Münster, Aktiv für Demokratie und Toleranz, Sonderpreis des Multi-Kulti-Preises. Dazu erhielten wir 2017 noch ein Beratungsstipendium durch startsocial.

Video-Interviews. Neues Projekt mit der Videokamera

Und die Geschichte ging noch weiter. Beruflich hatte ich inzwischen eine befristete Arbeit gefunden, die aber im Herbst 2019 auslief. Da erreichte mich ein Anruf des Bildungsträgers RE/init e.V. in Recklinghausen. Inspiriert durch die Gesichter einer Flucht, hatte man dort eine Art Fortsetzung kreiert: „Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“. Das Video-Interviewprojekt wurde vom Bundesministerium des Innern und für Heimat gefördert. Innerhalb von drei Jahren interviewte ich 60 Menschen, zwischen 11 und 90 Jahren, die seit 1945 aus unterschiedlichen Gründen aus 45 Ländern ins Ruhrgebiet kamen. Der Dreh von Video-Interviews war noch einmal eine ganz neue Herausforderung für mich. Dazu organisierte ich 25 Workshops mit dem Ziel, Menschen verschiedener Kulturen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Die 60 Video-Interviews des Projekts „Angekommen in … – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“ sind online abrufbar. Während der Projektlaufzeit wurden Video-Stelen an Kooperationspartner*innen verliehen.
Foto: Lilian Saglam

Migrationsgeschichten sind Zeitzeugnisse

Während einer durch die Corona-Pandemie aufgezwungenen Pause folgte ich dem Rat eines Historikers und bot die Interviews als Zeitzeugnisse diversen Archiven an. Die Stiftung Haus der Geschichte in Bonn reagierte als erstes. Im Sommer 2022 wurden die Videos nicht nur ins digitale Gedächtnis der Bundesrepublik aufgenommen. Seit Neuestem sind sie im Zeitzeugen-Portal einer breiten Öffentlichkeit online zugänglich. Was für eine Wertschätzung gegenüber den Menschen mit Migrationsgeschichte, den Interviewpartner*innen – und auch meiner Arbeit!

Engagement voller Glücksmomente

Es ist wunderschön zu erleben, wie Menschen mir ihre Geschichte stockend und unter Tränen erzählen und ein paar Monate später in der Lage sind, davon frei und vor Publikum bei einer Ausstellungseröffnung zu berichten. Eine betagte Frau sagte mir dazu: „Frau Sommer, durch das Interview hat sich etwas gelöst, ich kann nun von der Flucht und anderen Dingen sprechen.“
Ich selbst bin an den Projekten und Herausforderungen persönlich und beruflich gewachsen und sehr dankbar für das Vertrauen und die Freundschaften, die entstanden sind. Es ist wirklich viel Arbeit, aber ich empfinde sie als sehr sinnvoll und voller Glücksmomente.

Fluchtgeschichten trüben Gefühl von Sicherheit

Neben all den positiven Entwicklungen gibt es für mich persönlich auch eine negative Seite.
Mein unverbrüchliches Gefühl von Sicherheit, dass meine Familie nie wird fliehen müssen, ist nicht mehr vorhanden. Denn das haben viele meiner Interviewpartner*innen vor ihrer Flucht auch nicht erwartet. Und doch, wenn ich gefragt werde, wie ich mit den schrecklichen Schilderungen zurechtkomme, antworte ich: „Ich muss diese Dinge nicht erleben. Ich höre sie mir nur an.“

Menschen ein Gesicht und eine Stimme zu geben, ist mein Thema geworden. Ich bin offen für neue Projekte und gespannt darauf, was als Nächstes geschieht!


Ein Beispiel für die schönen Dinge, die aus den Fluchtgeschichten entstanden sind: Die Theaterpädagogische Werkstatt Osnabrück verarbeitete Fluchtgeschichten aus Haltern in ihrem Stück „fremd sein.ein dialog“. Es wurde rund 50-mal in Schulen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen aufgeführt. Foto: Studio Augenblick

Wer mehr über MIGRATIONSGESCHICHTEN IM RUHRGEBIET erfahren will, der sollte unbedingt auch die anderen Beiträge der dreiteiligen Serie unserer Autorin Gerburgis Sommer lesen: Wanderausstellung: Schau mich an – Gesicht einer Flucht und Aus Migrationsgeschichte werden Zeitzeugnisse


Titelfoto: Im Willkommenscafé des Asylkreises Haltern am See lernte Gerburgis Sommer ihre Interviewpartner*innen kennen. Foto: Mathias Kolta, www.mosaik-management.de

Über den Autor

Gerburgis Sommer

arbeitet für den Bildungsträger RE/init e.V. in Recklinghausen in der Öffentlichkeitsarbeit. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Asylkreis Haltern am See und hat das Projekt „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ initiiert und durchgeführt. Sie organisiert den Verleih der Wanderausstellung. Beim Bildungsträger RE/init e.V. in Recklinghausen führte sie das Projekt „Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“ durch. Noch immer bedient sie Nachfragen für Workshops und berät Interessierte zu Interviewprojekten.

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