Es ist ein inspirierender Schatz voller Erfahrungen, mal traurig, mal witzig, oft emotional und sehr herzlich. In Video-Botschaften berichten 60 Menschen aus 45 Ländern, wie sie ihr Ankommen im Ruhrgebiet erlebt haben. Die Interviewten des Projekts „Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“ schildern ihre Erfahrungen offen und sehr persönlich: „Ich bin glücklich, dass ich in einer Demokratie lebe!“ sagt eine Frau aus Afghanistan. „Meine Eltern haben Ressentiments gehabt gegenüber Deutschen“, erinnert sich ein früheres Gastarbeiterkind und ein junges Mädchen entdeckt: „Die polnische Tradition ist das, was mich zur Alicja macht.“ Auch Verblüffendes ist dabei: „Am Sonntag von Deutschen eingeladen zu werden, war für mich ein Top-Ten-Ziel“, erzählt Schimon aus Israel.

Neuanfang im Ruhrgebiet

Diese bunte Sammlung an Zitaten läuft als Band über die Internetseiten des Projekts. Mit ganz unterschiedlicher Motivation sind die Interviewpartner*innen im Lauf der vergangenen 80 Jahre in eine häufig ungewisse Zukunft aufgebrochen: Nach einer Flucht vor Krieg und Gewalt, auf der Suche nach Arbeit, aus Abenteuerlust gekommen oder der Liebe wegen geblieben, haben sie im Ruhrgebiet einen Neuanfang gewagt. Zur Zeit der Interviews war Rouz aus Syrien mit elf Jahren die jüngste und Helmut aus Ostpreußen mit 90 Jahren der älteste Teilnehmende. Einen guten Überblick über die Vielfalt an Personen, Migrationserfahrungen und Themen gibt der Projekttrailer.

Interviews mit berührenden Aussagen

Die Interviews mit den Zeitzeug*innen fanden im Zweiergespräch statt. In dieser geschützten Atmosphäre fiel es den Interviewpartner*innen leicht, ihre Erfahrungen zu schildern. Foto: Mathias Stratmann  

Die Kamera nimmt die Zeitzeug*innen vor einem schwarzen Hintergrund in den Blick. So lenkt nichts ab vom Fokus auf die Person. In geschütztem Rahmen legen sie das Narrativ der Migration aus ihrer persönlichen Perspektive dar. Die 5- bis 20-minütigen Interviews berühren und überraschen. Es stimmt nachdenklich, wenn Zakaria, 15-jähriger Urenkel eines Gastarbeiters aus Marokko, sagt: „Auf der Straße werde ich alleine als Deutscher gesehen. In der Gruppe sieht man uns als Ausländer.“ Wer erwartet schon, dass die Amerikanerin Jackie es für wichtig hält, „unaufgeräumte Ecken“ zu zeigen, wenn sie deutschen Besuch bekommt. Sie hat außerdem ein paar „Tricks“ entwickelt, mit denen sie die Deutschen „knackt“. In den Videos dokumentieren die Interviewten auch ihre Stärke, wie Aya aus Syrien mit ihrer Aufforderung: „Bitte sprechen Sie von uns nicht als Flüchtlinge, sondern als Überlebende!

In ihrer großen Vielfalt zeigen die Aussagen der Interviewten, dass

  • Flucht und Migration keine Ausnahmen sind.
  • Gründe für Migration sehr vielfältig sind.
  • Migrant*innen Visionen für ein gutes Miteinander verschiedener Kulturen haben.
  • Diskriminierung und Rassismus alltäglich sind und wie man dagegen handeln kann.

Auf der Internetseite des Projektes, gefördert durch das Bundesministerium des Inneren und für Heimat, finden sich außerdem fünf Beschreibungen von Migrationsgeschichten aus der Geschichte der Region.

Alle Interviews sind auf den Projektseiten www.angekommen-in-bot.de abrufbar.
Gleichzeitig hostet jede Stadt auch die Interviews mit den Menschen von dort. Also gibt es drei Seiten, die aber miteinander verbunden sind – übers Menü gelangt man zu den Interviews in den anderen Städten.
www.angekommen-in-re.de
www.angekommen-in-bot.de
www.angekommen-in-ge.de

Die 60 Video-Interviews berühren durch die große Offenheit und die spannenden Aussagen der Interviewpartner*innen. Sie sind auf den Projektseiten www.angekommen-in-bot.de abrufbar. Foto: Gerburgis Sommer

Workshops und persönliche Begegnungen

Die Video-Interviews wecken das Interesse an Migrationserfahrungen allgemein und im eigenen Umfeld. Ein weiteres Ziel war es, in dem von 2019 – 2022 laufenden Projekts, in 25 Workshops Begegnungen zwischen Kulturen zu ermöglichen. Dabei kamen Formate zum Einsatz wie „Im Gespräch mit … – Wir kommen (online) zu Besuch“, „Close Up – Kino mit Dialog“, „Erzähle deine Geschichte – Erzählcafé“, „Schwarzbrot trifft Kardamon – Mitbringbuffet“ und „Schnelle Begegnung – Speed-Talking“. Hierbei wirkten immer auch Interviewpartner*innen mit. Für etliche von ihnen markierte das Interview ein Innehalten und ermöglichte eine wertvolle Rückschau auf Erlebnisse und (gemeisterte) Herausforderungen. Im Nachgang thematisierten sie die eigene Migrationsgeschichte auch im Verwandten- und Bekanntenkreis. Eventuell kürzen?
Weitere Workshops richteten sich an Organisationen, die eigene Interviewprojekte durchführen wollten. Auf Anfrage werden auch nach Projektende Workshops durchgeführt.

Haus der Geschichte archiviert Migrationsgeschichten

Kurz vor Abschluss des Projekts brachte der Kontakt mit einem Historiker die Archivierung der Videos ins Rollen. Die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn wertet die Interviews der Migrationsgeschichten als Zeitzeugnisse und archiviert die Videos im digitalen Archiv. Und nicht nur das: Seit kurzem sind die ersten Interviews aus Bottrop im Zeitzeugen-Portal online. Dies bedeutet für die Projektteilnehmenden eine enorme Wertschätzung ihrer persönlichen Migrationsgeschichte.


Inspiriert wurde das Projekt durch die Wanderausstellung „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“, einer ehrenamtlichen Aktion der Projektmanagerin Gerburgis Sommer. Die Fluchtgeschichten dieses Projekts werden von der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung archiviert.

Das Migrationsgeschichtenprojekt wurde vom Bildungsträger RE/init e.V. in Recklinghausen durchgeführt von:
Projektleitung: Marithres van Bürk-Opahle
Projektmanagement und Interviews: Gerburgis Sommer
Edition: Ferdinand Fries, Montevideo Bottrop

Weitere Beiträge aus der Reihe MIGRATIONSGESCHICHTEN AUS DEM RUHRGEBIET finden Sie hier: Wanderausstellung: Schau mich an – Gesicht einer Flucht

Titelbild: U.a. Blick auf die Projektseiten www.angekommen-in-bot.de . Fotos: Gerburgis Sommer

Über den Autor

Gerburgis Sommer

arbeitet für den Bildungsträger RE/init e.V. in Recklinghausen in der Öffentlichkeitsarbeit. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Asylkreis Haltern am See und hat das Projekt „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ initiiert und durchgeführt. Sie organisiert den Verleih der Wanderausstellung. Beim Bildungsträger RE/init e.V. in Recklinghausen führte sie das Projekt „Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“ durch. Noch immer bedient sie Nachfragen für Workshops und berät Interessierte zu Interviewprojekten.

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