Ehemalige DDR-Inhaftierte und heute politisch Verfolgte gestalten zusammen Seminare in Berlin-Hohenschönhausen.

Janina Berkle und Rachel Dickstein

Die Integration von Geflüchteten in Deutschland und das friedliche Zusammenleben in einer vielfältigen, weltoffenen Gesellschaft sind bedeutende Herausforderungen der Gegenwart. Gedenkstätten als authentische Orte der Geschichtsvermittlung, der politischen Bildung und Demokratieerziehung können hierbei eine große Rolle spielen. Die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen möchte mit neuen Bildungsangeboten ihren Beitrag dazu leisten. Aus diesem Grund hat die Stiftung mit dem Projekt Histories2gether besondere Tandemseminare entwickelt. 

Histories2gether bietet Tandems mit zwei Zeitzeug*innen an, die gemeinsam über ihre Erlebnisse sprechen. Der Titel des Projektes steht dabei nicht nur für die beiden Referent*innen, für die Reise in die Vergangenheit und den Bezug zur Gegenwart. Sondern er bedeutet auch, dass Geschichte gemeinsam entdeckt wird und Themen sichtbar werden, die alle verbinden. 

Erforschen und informieren

Von der Gründung der DDR bis zum Fall der Berliner Mauer sind Millionen Menschen aus der SED-Diktatur geflohen – teils unter den schwierigsten Bedingungen und unter größter Gefahr. Mehr als tausend Menschen sind bei ihrer Flucht ums Leben gekommen. Oder sie wurden verletzt und erlebten in einem Stasi-Gefängnis wie dem in Berlin-Hohenschönhausen als politische Häftlinge psychische Folter.

Die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen hat den gesetzlichen Auftrag, über die Geschichte des Haftortes und das System der politischen Justiz in der DDR zu forschen sowie die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Mit ihren Angeboten regt sie zur Auseinandersetzung mit den Formen und Folgen politischer Verfolgung in der kommunistischen Diktatur an.

Um diesen Auftrag für ein breiteres Publikum zu erfüllen, führt die Gedenkstätte das von der Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters geförderte Projekt „Neue Vermittlungsangebote in der historisch-kulturellen Bildung“ durch. Dieses Projekt dient der Integration und Inklusion bisher unterrepräsentierter Besuchergruppen in der Gedenkstätte. Dazu zählen Schüler*innen von Berufsschulen, Menschen mit Fluchterfahrung, Deutsche mit Migrationsgeschichte und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen wie zum Beispiel Lernschwierigkeiten. 

Die Idee zu Histories2gether

Wenn man aber Wissen über Diktaturen, Unterdrückung, Flucht und politische Haft in der Vergangenheit anschaulich vermitteln will, ist es unerlässlich, einen Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Bezüge zu heutigen Schicksalen von Flucht und Verfolgung liegen daher nahe. Im Jahr 2015 sind viele Menschen aus Krisenregionen wie Syrien über das Mittelmeer nach Europa geflüchtet, beispielsweise um politischer Haft zu entgehen. Dabei sind viele ums Leben gekommen oder waren monatelang unterwegs.

Histories2gether greift nun verschiedene dieser Schicksale auf. Entstanden sind Tandemseminare, die gemeinsam von einem ehemaligen politischen Häftling der DDR sowie von einem Neuangekommenen mit aktueller Fluchterfahrung geleitet werden. In den Seminaren geht es zum einen um Integration von Menschen, die wegen politischer Verfolgung nach Europa geflohen sind, zum anderen auch um Demokratieerziehung, wenn die Zeitzeug*innen gemeinsam über Flucht, Haftorte und Diktaturen berichten.

Die Vorbereitungsphase

Um mögliche Referent*innen und Zielgruppen für die Tandemseminare zu erreichen, hat das Team Kooperationen mit Vereinen und anderen Institutionen gesucht, die im Bereich Integration arbeiten. Dabei sind zahlreiche wertvolle Verbindungen entstanden, wie zum Beispiel mit der WIPA-Sprachschule, der Iranischen Gemeinde, dem Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat, dem Oromo Horn von Afrika Zentrum, dem Zentralverband des Deutschen Handwerks und dem Interreligiösen Dialog Reinickendorf.

Die intensive Vernetzung mit Akteuren im Bereich Integration hat geholfen, viele interessierte Menschen mit Fluchterfahrung zu erreichen – zum Beispiel aus Syrien, Afghanistan und dem Iran. Sie berichten nun über ihre Erlebnisse, insbesondere über die politische Verfolgung und Flucht.

In der Vorbereitungsphase und in den kontinuierlichen gemeinsamen Gesprächen zwischen DDR-Zeitzeug*innen und aktuell Geflüchteten erleben wir, dass es ein hohes Maß an Verständnis und Sensibilität für die Erlebnisse des jeweils anderen gibt. 

Die Referenten

Erhard Neubert unternahm 1964 einen Fluchtversuch aus der DDR. Die Flucht scheiterte, er wurde gefasst und zu einem Jahr und sieben Monaten Haft verurteilt. Heute führt er gemeinsam mit aktuell Geflüchteten Histories2gether-Tandemseminare durch. Er sagt:

„Meine Referentenkollegen in diesem Seminar stammen aus Syrien und Afghanistan. Ihre Lebenswege sind gekennzeichnet durch Kriege, die Zerstörung ihrer kulturellen Werte und fürchterliche Erlebnisse, die sie bei ihrer Flucht durch Asien bis nach Europa hatten. Sie erzählen, wie ihre Angehörigen vernichtet wurden oder alles verloren haben. Sie erlitten Dinge, wie ich sie nicht annähernd erlebt habe. Aber der Ausgangspunkt war immer eine brutale Diktatur, die das Leben Andersdenkender nicht respektiert und einen Willen zur Macht zeigt, der auch nicht vor Kriegen Halt macht.

Ich kann mich vor diesen Kollegen nur in tiefem Respekt verbeugen. Ich bin stolz darauf, mit diesen mutigen Menschen heute ein solches Seminar durchführen zu dürfen. Gemeinsam ist uns, durch unser Erlebtes der heutigen Generation aufzeigen zu wollen, dass sie niemals Ideologen und Populisten, rechten wie extrem linken, Glauben schenken sollten. Es gilt, Entwicklungen in der Gesellschaft kritisch und aufrecht zu hinterfragen.

Ich habe eine Menge in den Seminaren gelernt. Das Wichtigste aber ist, dass ich erkennen konnte, dass die Aufnahme von fremden Menschen, gerade aus Diktaturen und Kriegsgebieten, in der Bilanz keine Last für unser Land bedeutet. Die Schicksale meiner Kollegen und deren heutiger Lebensweg in Deutschland hat meine Erkenntnis befördert, dass wir mehr dabei gewonnen haben, diesen mutigen, intelligenten und kreativen Menschen nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen zu haben.“

Erhard Neubert

Einer der Kollegen von Erhard Neubert ist 2015 aus Syrien geflüchtet und hat sich nun als Referent für Histories2gether zur Verfügung gestellt. Er sagt:

„Das Projekt ist eine Gelegenheit, um das Zusammenleben in Deutschland zu stärken. Wenn ich mir die Erzählungen der DDR-Zeitzeugen anhöre, dann denke ich an meine eigene Geschichte. Obwohl es in einem ganz anderen Land passierte, fühle ich diese Nähe und dass wir dasselbe Schicksal haben. Mir ist es wichtig zu zeigen, dass wir aus der Geschichte lernen müssen.“ 

Die Erfahrungen

Besonders zum Ende der Veranstaltungen wird die Diskussion in den Seminaren oft sehr lebendig. Dann setzen sich beide Zeitzeug*innen gemeinsam für Demokratie und Menschenrechte ein. Sie versuchen den Jugendlichen deutlich zu machen, wie wichtig es ist, mitzubestimmen und zu wählen. An dieser Stelle verstehen viele Schüler*innen genau, warum die beiden Geschichten gemeinsam in einem Seminar behandelt werden. Die Schüler*innen stellen viele Fragen. Die Erläuterungen der Zeitzeug*innen verdeutlichen ihnen, wie schnell ein Staat zu einem Unrechtsstaat werden kann, aus dem Menschen vor Krieg oder politischer Verfolgung fliehen müssen. 

Das neue digitale Angebot

Auch wenn die Seminare wegen der globalen Pandemie durch Covid-19 zeitweilig in Stillstand geraten sind, hat das Team die Zeit genutzt, neue Vermittlungsformate zu konzipieren, vor allem Online-Seminare. Interessierte können eine Buchungsanfrage über die Internetseite http://histories2 gether.de stellen oder eine E-Mail senden an: histories2gether@stiftung-hsh.de.

Janina Berkle und Rachel Dickstein sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.

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