„Gegenwartsbewältigung“ ist der zweite Essayband von Max Czollek, der es genau wie sein Vorgänger „Desintegriert euch!“ auf die Bestsellerlisten geschafft hat. Das Buch erschien 2020 im Carl Hanser Verlag und hat es in sich. Es ist eine provokative Streitschrift, in der weder Politiker*innen, noch Künstler*innen vor Czolleks Kritik verschont bleiben.

Max Czollek

Max Czollek wurde 1987 in Berlin geboren. Er studierte Politikwissenschaften und promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung. Er ist Publizist, Lyriker und Mitherausgeber der Zeitschrift Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart.

Gegenwartsbewältigung – Was gibt es denn zu bewältigen?

Die rechtsterroristischen Anschläge von Hanau und Halle, die Thüringer Landtagswahl und der Ausbruch der Corona-Pandemie sind die vier Hauptereignisse, anhand derer Max Czollek aufzeigt, was wir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft zu bewältigen haben. Die Gegenwartsbewältigung stehe der Vergangenheitsbewältigung gegenüber. Sie soll eine Auseinandersetzung mit etablierten Denkweisen ermöglichen, die in unserer Gegenwart insbesondere für die Menschen, die nicht in dem „Wir“ der deutschen Gesellschaft einbezogen und mitgemeint sind, gefährlich werden. Gegenwartsbewältigung bezeichnet ein Andersdenken, das eine Gesellschaft ermögliche, in der alle geschützt sind. Der Bezug zur Geschichte des Nationalsozialismus sei dabei nicht zufällig. Eine zentrale Frage der Gegenwartsbewältigung laute, wie wir unser politisches Denken so einrichten können, dass die AfD unmöglich wird. Diese Frage ist zentraler denn je angesichts dessen, dass die AfD bei der Bundestagswahl dieses Jahres erneut einen Stimmanteil im zweistelligen Bereich erhalten hat und somit zum zweiten Mal in den Bundestag einzieht. Es ist eine Schande! Und genau um solche und andere schlimme Entwicklungen unserer Gegenwart bewältigen zu können, lohnt es, sich mit diesem Buch auseinanderzusetzen.

Max Czollek über die beschränkte Solidarität

Solidarität, so Czollek, sei nicht von sich aus eine Tugend. Sie kann sich auch als völkische und rassistische Verbundenheit manifestieren, die bestimmte Individuen und Gruppen exkludiert. Dies bezeichnet Czollek auch als beschränkte Solidarität. Die beschränkte Solidarität unterscheide zwischen denjenigen, die Hilfe und Solidarität verdienen und jenen, die es nicht tun. Insbesondere durch die kurzfristige Durchsetzung harter Maßnahmen im Umgang mit dem Corona-Virus sei deutlich geworden. Denn die ausbleibenden Reaktionen auf beispielsweise Nazistrukturen in staatlichen Institutionen wie der Polizei, der Bundeswehr oder dem Verfassungsschutz seien eben nicht auf gesellschaftliches und staatliches Unvermögen zurückzuführen, sondern auf ihren Unwillen.

Unwort Leitkultur

Czollek legt außerdem dar, weshalb die Konzepte von Leitkultur und Heimat für Minderheiten so gefährlich sind und was sie über das Selbstbild ihrer Verfechter*innen sagen. Er zeigt auf, inwiefern solche Konzepte im völkischen Denken verankert sind und weshalb wir uns von ihnen verabschieden, oder sie zumindest kritisch betrachten müssen, wenn wir in einer pluralen Gesellschaft leben möchten. Der Anspruch an die Leitkultur sei es, eine dominante Kultur zu bilden, die den meisten deutschen gemein sei und als einzige durch die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit vor Antisemitismus schütze. Den Preis für die Aufwertung durch dieses Selbstbild, so Czollek, zahlen aber immer noch Juden und Jüdinnen, die nach wie vor der Gefahr von rechts ausgesetzt sind. Und Muslim*innen, die trotz der Omnipräsenz rechter Gewalt zur zentralen Bedrohung jüdischen Lebens erklärt würden. „Die größte Gemeinsamkeit der Deutschen ist wahrscheinlich ihre Differenz zueinander[…]“. Es gebe also gar keine Leitkultur und könne sie auch nicht geben, weil die deutsche Gesellschaft zu vielfältig sei und kein dominantes Zentrum mehr existiere.

Das H-Wort

Der Wunsch nach Heimat oder auch dem H-Wort, wie Czollek sie an einer Stelle ironisch nennt, würde auf der Behauptung fußen, dass wir eine neue Erzählung bräuchten, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Die Heimat, sei ein Ausdruck einer Idealisierung, einer Erinnerung an eine irreale und nicht existente Vergangenheit. Diese Idealisierung jedoch sei im besten Fall Selbstbetrug und im schlechtesten Fall böser Wille, denn in dieser Erzählung bleibe kein Platz mehr für die real existente Bedrohung und Gewalt von rechts.

Ein Fantasiebegriff

Die Beschwörung der jüdisch-christlichen Tradition, bei der es sich allenfalls um einen Fantasiebegriff handeln würde, bewältige zwei zentrale Probleme. Zum einen liefere die vermeintlich vorbildliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus einen Grund „wieder richtig stolz auf Deutschland zu sein“ und zum anderen wäre die Forderung nach einer Leitkultur endlich legitimiert. Czollek zeigt aber auf, dass diese jüdisch-christliche Tradition so nie existiert habe. Die 1700-jährige Geschichte der Juden und Jüdinnen hier würde in erster Linie im Verhältnis zur nichtjüdischen Umgebung erzählt. Die gegenwärtige Erzählung könne man zusammenfassen als: „Die Juden gehörten zu Deutschland, dann wollten die nicht-jüdischen Deutschen sie umbringen, jetzt wollen sie es nicht mehr.“. Für Innerjüdische Geschichten bleibt da kein Platz mehr. Anstelle einer jüdisch-christlichen Tradition, schreibt Czollek, könne man die frühe jüdische Geschichte in Deutschland auch als die einer Parallelgesellschaft erzählen, wenn man die historischen Fakten berücksichtige.

Jüdisch-muslimische Leitkultur

Als Gegenentwurf für diese Konzepte wie Leitkultur, Heimat und Co plädiert Max Czollek für eine jüdisch-muslimische Leitkultur. Denn nach den rechten Terrorangriffen der letzten Jahre sei deutlich, dass sich diese beiden Gruppen wahrscheinlich ein Schicksal teilen werden. Entweder werde es beiden gelingen in Deutschland zu leben oder beiden nicht.

„Das Problem dieser Gesellschaft ist kein Mangel an Gemeinschaftsgefühl, sondern ein Mangel an Gefühl dafür, wer zu dieser Gemeinschaft dazugehört.“

Komplexe Intersektionalität und Verbündet-Sein

Wie hilft uns also nun die Gegenwartsbewältigung dabei? Hierfür sind besonders zwei Stichworte von Interesse: komplexe Intersektionalität und Verbündet-Sein. Der Begriff der Intersektionalität, welcher die Schnittstelle und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Diskriminierungsformen meint, wird durch Czollek erweitert. Die komplexe Intersektionalität beschreibt die Gleichzeitigkeit von Diskriminierung und Privilegierung. Dadurch soll der Blick auf die Handlungsmacht von Betroffenen gelenkt werden, es soll deutlich werden, wie sie an Veränderung teilhaben können. „Handlungsmacht kann auch bedeuten, dass man die eigenen Ressourcen für die Rechte anderer einsetzt, gerade weil diese anderen diskriminiert sind.“. Die komplexe Intersektionalität ermöglicht einen neuen Blick auf den Umgang mit Diskriminierung und das Verbündet-Sein.

Fazit zu Max Czollek „Gegenwartsbewältigung“

„Gegenwartsbewältigung“ ist ein absolut empfehlenswertes Buch, welches eine neue Perspektive auf altbekannte Diskussionen und Konzepte wirft und zum Nachdenken anregt. Max Czollek gelingt es, die Probleme unserer Zeit auf eine humorvolle Art zu thematisieren, ohne dabei die Ernsthaftigkeit der Themen aus dem Blick zu verlieren.

„Menschen haben immer Ressourcen, die sie einsetzen können, um Verbündete zu sein“. Lasst uns nach diesem Leitsatz leben und wer weiß, vielleicht schaffen wir es ja doch noch unsere Gegenwart uneingeschränkt solidarisch zu bewältigen.

Max Czollek: Gegenwartsbewältigung
Carl Hanser Verlag, München 2020 
ISBN 9783446267725, 
Gebunden, 208 Seiten, 20,00 EUR     

Zur Autorin: Sena Çalışkan studiert im Master of Education die Fächer Biologie und Geschichte an der Freien Universität Berlin. Sie ist außerdem Jugendbotschafterin bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.