Zu Beginn des diesjährigen „Black History Month“ schauen wir erstaunlicherweise weit in den Norden Deutschlands. Das „Jagdschloss Bellin“ ist ein großzügiger neobarocker Bau mit Parkanlage. Es liegt in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, nahe der Mecklenburgischen Seenplatte. Die heutigen Besitzer betreiben dort ein Hotel, in dem die Gäste „ein Refugium der Stille und Erholung“ finden sollen.

Doch diese naturnahen Attribute standen nicht immer im Fokus der Anlage. Von 1979 bis 1990 fanden hunderte namibische Kinder hier ein Zuhause – in der DDR. Und auch wenn sie mittlerweile erwachsen sind und viele von ihnen Deutschland seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben, haftet ihnen der Name „DDR-Kinder“ immer noch an.

Ehemals deutsche Kolonie

Namibia liegt im Südwesten des Kontinents Afrika. Bis heute sind viele seiner Strukturen deutsch geprägt, denn von 1884 bis 1915 war Namibia eine Kolonie des Deutschen Kaiserreichs. Hier fand nach einem Aufstandsversuch einheimischer Bevölkerungsgruppen ein Vernichtungskrieg der deutschen Kolonialtruppen gegen die Volksgruppen der Nama und Herero statt, dem etwa 100.000 Menschen zum Opfer fielen und der inzwischen als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts eingestuft wird.

Der Konflikt in Namibia

Erst 1919 wurde das Land Mandatsgebiet der britischen Krone und folglich von Südafrika verwaltet. Die weiße Regierung Südafrikas etablierte nach und nach das System der „Apartheid“, das schwarze Bürger weiter diskriminierte und ihnen Rechte absprach.

In den 1950er und 1960er Jahren formierte sich der Widerstand gegen das rassistische Regime. Im April 1960 bildete sich die South West Africa Peoples Organisation (SWAPO), die als marxistische Freiheitsbewegung ab 1966 bewaffnet in den Kampf gegen die Apartheidsregierung Großbritanniens ging. Sie errichtete außerdem Flüchtlingslager außerhalb Namibias, in denen die Bevölkerung Schutz suchte.

So wurde Namibia zum Spielball des Systemkonflikts im Kalten Krieg. Besonders sozialistische Bruderstaaten waren interessiert daran, das zerrüttete Land mit Waffen, zivilen Gütern und Personal zu unterstützen – zu ihnen zählte auch die DDR.

Mit dem Angriff der südafrikanischen Armee auf das Flüchtlingslager „Cassinga“ in Südangola erreichte der Konflikt eine neue Eskalationsstufe. Am 4. Mai 1978 starben 600 Menschen, viele Kinder verloren ihre Eltern und Verwandte.

Die Kinder von Cassinga

Die „DDR-Kinder“ kamen im Schloss Bellin unter. Quelle: Wikimedia, Creative Commons Attribution 3.0 Unported (CC BY 3.0)

Der SWAPO-Präsident Sam Nujoma wandte sich hilfesuchend an das sozialistische Ausland. Er bat darum, namibische Kinder aus den SWAPO-Lagern aufzunehmen. Man wollte sie zum einen in Sicherheit bringen, zum anderen sah Nujoma eine Chance, eine „sozialistische Elite“ fernab der Kämpfe auszubilden.

Am 12. September 1979 bewilligte das Sekretariat des Zentralkomitees der SED das Projekt: So trafen 80 Kinder zwischen drei bis sieben Jahren am 18. Dezember 1979 im verschneiten Jagdschloß Bellin ein. Margot Honecker persönlich hatte das Gut zu diesem Zweck umgestaltet und eingerichtet. 350 weitere Kinder folgten bis zum Ende des größten und teuersten Hilfsprogramms der DDR.

„DDR-Kinder“: Eine neue Elite?

Von seinem Beginn an stand das Projekt im Zeichen einer strengen sozialistischen Erziehung. Die Kinder erhielten eine Ausbildung zu „SWAPO-Pionieren“. Sam Nujoma plante, sie später als Diplomant*innen oder in Führungskadern einzusetzen.

Zu diesem Zweck lernten sie marschieren, sangen Freiheitslieder und erhielten eine ideologisch geprägte Bildung. Zur Disziplinierung wurde verschiedenen Berichten zur Folge auch Gewalt eingesetzt.

Namibias Kultur spielte in der Erziehung keine große Rolle. Zwar waren auch namibische Erzieher*innen angestellt, die mit den Kindern traditionelle Tänze veranstalteten und Kochabende organisierten. Die meisten von ihnen hatten allerdings einen Großteil ihres Lebens außerhalb Namibias in Flüchtlingslagern verbracht. Auch ihnen war ihre Heimat fremd geworden.

Das überstürzte Ende

In der Konsequenz wuchsen die Kinder vor allem „deutsch“ auf. Sie besuchten deutsche Schulen und sprachen immer weniger Oshiwambo, ihre eigentliche Muttersprache. Viele der „Ex-DDR-Kinder“ berichten heute, dass sie in den anderen Kindern eine neue Familie gefunden hatten.

Dennoch fand das Projekt ein plötzliches Ende. Am 22. Dezember 1988 einigten sich die Vereinigten Nationen mit der Südafrikanischen Apartheidsregierung auf die Unabhängigkeit Namibias. Diese trat am 21. März 1990 in Kraft.

Gleichzeitig zerfiel die Sowjet Union, weshalb auch Deutschland sich veränderte. Mit dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 begann die Auflösung der DDR. Schnell wurde deutlich, dass die „DDR-Kinder“ nicht im vereinigten Deutschland bleiben konnten.

Über die genauen Gründe herrscht bis heute Uneinigkeit. Vor allem habe es an Geldern gemangelt, um das teure Projekt am Laufen zu halten. Auch die Bundesrepublik unternahm nichts, um den Kindern, die in der DDR ihre Heimat sahen, zu helfen.

Zurück in ein unbekanntes Heimatland

So mussten die Kinder und ihre namibischen Erzieher*innen das Land am 26. August 1990 völlig überstürzt verlassen. Viele von ihnen hatten 11 Jahre in der DDR gelebt, an Namibia hatten sie keine Erinnerungen mehr und keine Kontakte zu Verwandten.

Die Rückkehr führte somit zu vielen Konflikten. Einige Einheimische betrachteten die „DDR-Kinder“ als „weiße Schwarze“ oder einfach als Deutsche. Oshiwambo zu sprechen, fiel den Kindern zunächst schwer. Sie waren es gewohnt, sich auf Deutsch zu unterhalten.

Ein Schülerheim in Windhoek nahm einige der älteren Kinder auf. Die Jüngeren kamen zumeist zu Verwandten aufs Land, die im Gegenzug etwa 50 Rand erhielten. Sie mussten die Familien auf dem Feld unterstützen, was sie aus der DDR nicht gewohnt waren.

Von einer „sozialistischen Elite“ war keine Rede mehr: Nur wer Glück hatte, konnte seinen Abschluss an einer der zwei deutschen Privatschulen in Windhoek machen.

„DDR-Kinder“ heute

Heute blicken viele der „Ex-DDR-Kinder“ positiv auf ihre Vergangenheit in Mecklenburg-Vorpommern zurück. Sie sind zum Beispiel Anwältinnen, PR-Manager oder Arzthelferinnen. Manche sind auch nach Deutschland zurückgekehrt.

Andere haben ihre zerrüttete Biografie nicht verkraftet, einige leben sogar auf den Straßen von Windhoek. Leicht war es für alle sicherlich nicht. Die Kinder und Jugendlichen mussten sich in einem Alter, das ohnehin von Unsicherheiten geprägt ist, viel mit ihrer Identität und Herkunft auseinandersetzen.

Diejenigen, die in Namibia geblieben sind, sind zum Teil im „Freundeskreis ex-DDR“ organisiert. Hier treffen sich die „Ex-DDR-Kinder“, tauschen sich aus und halten Kontakt. Die offizielle Sprache ist „Oshi-Deutsch“: Eine Mischung aus Deutsch, Englisch und Oshivambo.

Aufarbeitung und Reflexion

Die Vergangenheit der „DDR-Kinder“ wurde immer wieder in den Medien thematisiert. Hierzu trugen verschiedene Projekte bei. Das Theater Osnabrück interpretierte die Geschichte der „DDR-Kinder“ schauspielerisch. Lucia Engobe, selbst ein ehemaliges „DDR-Kind“, verfasste im Jahr 2004 das Buch „Kind Nr. 95“. Sie reflektierte die Ereignisse vor allem autobiografisch.

Auch wissenschaftlich ist das Schicksal der Kinder von Interesse. So verfassten der ehemalige Schulleiter der Kinder, Jürgen Krause, sowie die Diplom-Pädagogin Inga Scheumann Dissertationen zum Thema.
Oft diskutiert wurde vor allem eine Frage: Welche Rolle spielt Migration für unsere Identität?

Literaturhinweis: Das Buch "Kind Nr. 95" von Lucia Engombe erschien 2004 im Ullstein Verlag.
Titelfoto: Die "DDR-Kinder" des SWAPO-Kinderchors auf dem 19. Festival des politischen Liedes. Quelle: Thomas Uhlemann, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany,  Bundesarchiv, Bild 183-1989-0217-028 / CC-BY-SA 3.0 / Wikipedia gemeinfrei

Über den Autor

Michèle W.

Michèle ist Studentin der Geschichtswissenschaften M.A. an der Humboldt-Universität Berlin.

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