Die Bremer „Auswandererkartei“, offiziell bezeichnet als IRO-Kartei, verzeichnet die Ausreise der Menschen, die Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verließen. Viele von ihnen waren Displaced Persons (DPs). Mithilfe dieser Dokumente lassen sich wichtige Informationen zu den DPs erschließen und die weltweite Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg nachverfolgen. Sie geben zudem Antworten auf Fragen danach, ob und welche Möglichkeiten es gab, Deutschland nach dem Krieg zu verlassen und in welchen Ländern die DPs Asyl und gegebenenfalls ein neues Zuhause fanden.
IRO – International Refugee Organization
Angelegt wurde die Kartei von der IRO, der Internationalen Flüchtlingsorganisation (International Refugee Organization). Die Organisation wurde 1946 als Nachfolgeorganisation der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) gegründet. Als eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen hatte sie ihren Sitz in Genf.
Die Hauptaufgabe der Organisation bestand darin, sich um Menschen zu kümmern, die infolge des Zweiten Weltkriegs heimatlos geworden waren. Ihre Fürsorge galt insbesondere den Überlebenden des Holocausts und ehemaligen Zwangsarbeitern, bekannt als Displaced Persons (DPs). Zusätzlich dazu koordinierte die Organisation die Rückführung dieser Personen in ihre Heimatländer oder ihre Auswanderung in andere Staaten. Die IRO stellte ihre Tätigkeit im Januar 1952 ein und löste sich im September 1953 offiziell auf. Zu diesem Zeitpunkt waren viele ihrer Aufgaben bereits von anderen Organisationen übernommen worden.
Resettlement statt Repatriierung
Die Hilfsorganisationen stellten im Zuge der Bemühungen, den DPs bei der Rückkehr in ihr Herkunftsland zu helfen, fest, dass Hunderttausende von ihnen nicht in diese zurückkehren wollten oder konnten. Stattdessen strebten viele danach, in einem anderen Land ein neues Leben zu beginnen. Vor allem Personen aus Mittel- und Osteuropa lehnten die Rückkehr ab. Sie wollten nicht im Kommunismus der Sowjet Union leben oder es gab ihre Heimat so nicht mehr. Andere fürchteten weitere Repressionen sollten sie heimkehren. Zudem wollten viele Jüdinnen und Juden ihr früheres Leben und Deutschland hinter sich lassen.
Eine UN-Resolution schrieb deshalb im Februar 1946 vor, dass die Rückführungen freiwillig seien. Als Alternative bot man den betroffenen Personen dauerhafte Umsiedlungen, genannt Resettlements, an. Die UNRRA und später die IRO richtete daraufhin Hilfsprogramme ein und vermittelte zwischen den Displaced Persons und den Ländern, die bereit waren, Einwanderer aufzunehmen.
Die Auswanderung oder das Resettlement der DPs folgte einem genau festgelegten Verfahren. Nach einem Auswahlverfahren, bestehend aus Interviews sowie medizinischen und beruflichen Prüfungen, wurden die DPs etwa zwei Wochen vor der Abreise in eine sogenannte Emigrant Staging Area verlegt. Ursprünglich waren diese dafür da, die Auswanderer so nah wie möglich am Abreiseort zu versammeln. So wollte man sicherzustellen, dass die Flugzeuge und Schiffe pünktlich und mit möglichst voller Besetzung starten konnten. Die DPs erhielten dort aber auch Unterstützung bei den bürokratischen Angelegenheiten der Emigration sowie Vorbereitungs- und Sprachkurse. Das heutige Israel war das bevorzugte Auswanderungsziel für jüdische DPs. Kanada, Australien und Länder in Südamerika waren bei den Auswanderern ebenso beliebt.
Laut dem Historiker Wolfgang Jacobmeyer emigrierten bis zur Auflösung der IRO mehr als 700.000 Personen mit ihrer Unterstützung.
Die „Auswandererkartei“ Bremen
In Bremen existierte ab 1946 eine der größten Emigrant Staging Areas. Dazu gehörten unter anderem die Camps in Lesun und Grohn. Alleine im Camp Bremen-Grohn konnten bis zu 5.000 Personen untergebracht werden.
In diesen Camps wurden von UNRRA- und später IRO-Mitarbeiter*innen die Karten erstellt, die heute als „Auswandererkartei“ Bremen im Bremer Staatsarchiv aufbewahrt werden. In der Kartei, welche mehr als 500.000 Dokumente umfasst, sind die in der Bremer Emigrant Staging Area betreuten Auswanderer von 1946 bis 1952 festgehalten.
Geführt wurde die Kartei unter anderem, um einen Überblick über die Auslastung der Unterbringungen zu behalten, denn die alle zwei bis drei Tage ablegenden Schiffe sorgten für einen stetigen Wechsel innerhalb der Camps.
Je nach Typ enthalten die Karten beispielsweise Informationen zum Namen des Auswanderungscamps sowie zum Namen, dem Geburtsdatum und dem Geburtsort der ausreisenden Person. Auch das Geschlecht, der Familienstand, die Nationalität und die Religion wurden auf den Karten vermerkt. Zusätzlich gibt es Felder für das Emigrationsziel, das Abreisedatum, den Schiffsnamen, medizinische Daten und das DP-Camp, in dem sich die Person zuletzt aufgehalten hat. Auf manchen Karten wurde auch die DP-Nummer, die Anzahl weiterer Familienmitglieder, der Beruf und die Bargeldmenge im Besitz der Person abgefragt.
Die Karten sollten wohl als eine Art Laufzettel fungieren, wo auch medizinisches Personal und andere Stellen wichtige Daten festhalten konnten. Doch in der Regel wurden sie nicht vollständig ausgefüllt. Bis auf einige persönliche Angaben und im späteren Verlauf des Aufenthalts das Abreisedatum, der Zielort und der Schiffsname blieben viele Felder also leer.
Auf den Schiffen der IRO verließen auch Personen das Land, deren Auswanderung zum Beispiel privat oder durch Sponsoren arrangiert wurde. Deshalb ist es wichtig zu beachten, dass nicht alle Personen, für die eine Karte in der IRO-Kartei existiert, Displaced Persons waren.
#everynamecounts
„Wir wollen bei der Challenge 2024 den Blick darauf lenken, vor welchen großen Herausforderungen die Menschen standen, die sich zu einem Neustart in einem fremden Land entschieden. Sie brauchten viel Unterstützung, Hilfe und Menschen, die Verständnis für ihre schwierige Situation hatten. So wie Migrant*innen zu jeder Zeit, auch heute.“
Arolsen Archives
Im Rahmen der Initiative #everynamecounts haben die Arolsen Archives im vergangenen Januar eine Challenge gestartet, um in einem ersten Schritt 30.000 Karten der „Auswandererkartei“ Bremen zu digitalisieren. Als Freiwillige*r konnte man sich online, zusammen mit über 100.000 anderen Freiwilligen daran beteiligen. Obwohl diese Aktion bereits vorbei ist, kann man sich weiterhin engagieren, da im nächsten Schritt nun weiter 90.000 Karten eingegeben werden sollen.
Die Initiative #everynamecounts ist eine Möglichkeit, einen Beitrag zum größten digitalen Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus zu leisten und ein Zeichen zu setzen für Respekt, Vielfalt und Demokratie!
Quellen: https://www.staatsarchiv.bremen.de/aktuelles/neuigkeiten-14151#everynamecounts https://www.un-ilibrary.org/content/books/9789210602198s004-c010/read https://arolsen-archives.org/news/die-emigration-der-displaced-persons/ https://eguide.arolsen-archives.org/archiv/anzeige/bremen-emigrant-staging-area-karte/ https://everynamecounts.arolsen-archives.org/ https://arolsen-archives.org/news/mitmachen-digitalisieren-erinnern-die-arolsen-archives-starten-neue-challenge/
Titelfoto: Scan eines Auszug der Bremer „Auswandererkartei“. Foto: Staatsarchiv Bremen