Novemberrevolution 1918, Novemberprogrome 1938, Mauerfall 1989 – der 9. November zählt in Deutschland seit jeher als denkwürdiges Datum. Zahlreiche Gedenkveranstaltungen erinnern uns Jahr für Jahr an die teils schmerzhaften Ambivalenzen in der deutschen Geschichte. Dabei sind längst nicht alle historischen Ereignisse, die auf diesen Tag fallen, in der Öffentlichkeit präsent.

An was wir heute auch erinnern möchten, ist die Gründung der ersten UN-Hilfsorganisation für die Versorgung und Vermittlung von Geflüchteten vor genau 80 Jahren. Ab Ende des Zweiten Weltkrieges kümmerte sich die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (kurz: UNRRA) unter anderem in Deutschland um die zahlreichen ehemaligen Gefangenen und Verschleppten, die ab 1945 unter der Bezeichnung Displaced Persons verstreut in Europa lebten.

Die Gründung

Im Spätherbst 1943 befindet sich die Welt im Krieg, vor allem Europa, aber auch Teile Chinas sind durch Kampfhandlungen zerstört und leiden unter feindlicher – das heißt deutscher und japanischer – Besatzung. Die Alliierten sehen das siegreiche Ende des Zweiten Weltkrieges voraus. Gleichzeitig beschäftigen sie sich bereits mit der Frage nach dem Danach.

Mit dem Gedanken an die verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges gründet sich am 9. November 1943 auf Anreiz Chinas, der UdSSR, der USA und Großbritannien eine internationale Hilfsorganisation unter dem Dach der Vereinten Nationen. Dazu treffen sich Vertreter von 44 unterschiedlichen Nationen im Weißen Haus. In den folgenden Wochen erarbeiten sie ein Grundlagenpapier, das für die folgenden Tätigkeiten der neuen Organisation richtungsweisend sein wird.

Ihr Ziel ist es, den Wiederaufbau der Länder von Deutschland und Japan besetzten Gebiete zu unterstützen und Gefahren sich ausbreitender Krankheiten einzudämmen. An vorderster Stelle steht jedoch die Versorgung und die sogenannte Repatriierung der zahlreichen Displaced Persons in Europa. Finanziert wird das Unternehmen größtenteils von Steuergeldern aus den beteiligten Gründungsnationen. Etwa die Hälfte der Kosten wird dabei von den USA übernommen.

Displaced Persons

Was sich hinter dem eher sperrigen Begriff Displaced Persons (kurz: DPs) verbirgt, sind Einzelschicksale mit ganz unterschiedlichem Hintergrund. So umfasst die zeitgenössische Sammelbezeichnung ehemalige Zwangsarbeiter:innen im Deutschen Reich und besetzten Gebieten, die von ihren ursprünglichen Herkunftsorten verschleppt wurden, freiwillig nach Deutschland gezogene und nun „entwurzelte“ Menschen, sowie Jüdinnen und Juden, die aus den deutschen KZs befreit werden konnten. Deutsche Geflüchtete beziehungsweise Vertriebene gehören nicht zur Gruppe der Displaced Persons.

Wie viele DPs in Europa und speziell im heutigen Deutschland nach 1945 verstreut lebten, ist heute schwer zu rekonstruieren. Die Gründungsnationen der UNRRA gehen bei Kriegsende von ca. 21 Millionen verstreut lebenden Migrant:innen in Europa aus. In den westlichen Besatzungszonen in Deutschland belaufen sich die Zahlen an ehemaligen, verschleppten Zwangsarbeiter:innen allein auf etwa sieben Millionen. Nach ihrer Befreiung aus unterschiedlichen nationalsozialistischen Lagern haben sie keinen Wohnsitz, meist keinerlei finanzielle Mittel, um sich selbst zu versorgen, geschweige denn in ihre Herkunftsorte zurückzukehren.

DP-Lager

Als Lösung sieht die UNRRA die vollständige Repatriierung, das heißt Rückkehr in die Heimat der Displaced Persons vor. Zunächst aber werden in den ehemals von deutschen besetzten Gebieten, sowie ab Sommer 1945 im besiegten Deutschen Reich sogenannte DP-Lager errichtet. Genutzt werden hierzu – makaberer Weise – meist ehemalige Zwangsarbeitslager, aber auch Schulen, Klöster und andere vormals öffentliche Gebäude. Um die Repatriierung in ein bestimmtes Land zu erleichtern, werden die Displaced Persons nach Nationen gruppiert in den Lagern untergebracht. Dort erhalten sie Lebensmittel, aber auch Bildungsangebote und die Möglichkeit, diverse Vereine zu gründen.

Offiziell unterstehen die Lager der jeweiligen Militäradministration, das heißt in der britischen Besatzungszone dem britischen Militär, in der französischen Zone dem französischen Militär usw. Nur in der amerikanischen Zone verwaltet die UNRRA die Lager selbständig.

Motive der UNRRA

Als untergeordnete Organisation der Vereinten Nationen ist die UNRRA prinzipiell eine militärische Einrichtung. Neben humanitären Motiven ist es ihre Aufgabe durch die geregelte Unterbringung von Geflüchteten Unruhen und Konflikte zwischen ihnen und den ehemaligen Besatzern zu verhindern. Dadurch versprechen sich die Gründer der UNRRA im Herbst 1943 zunächst ein rasches Durchkommen der Streitkräfte und eine schnelle Beendigung des Krieges. Außerdem soll das Aufkommen neuer politischer Extreme im zerstörten und verarmten Europa nach Kriegsende verhindert werden. Ausgenommen von den Hilfeleistungen durch die UNRRA ist jedoch die deutsche und japanische Bevölkerung. Ihre Unterstützung zu Wiederaufbau erhält sie auf anderem Weg.

Hilfe zur Selbsthilfe

There is the principle of helping people to help themselves. We have been called upon twice within the span of a lifetime to devise in peace that men can live in freedom from fear and from war. We failed once. We dare not fail again.

UNRRAs Erster Generalsekretär Herbert H. Lehman in Atlantic City zur Gründung der UNRRA, November 1943.

Ganz oben im Konzept der UNRRA steht das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Gerade den Displaced Persons als Hauptzielgruppe der UNRRA fehlt es aber zunächst an jeder Grundlage – finanziell und organisatorisch – um ein neues Leben nach Jahren der Zwangsarbeit und Folter in nationalsozialistischen Lagern anzufangen. Wie der richtige Umgang mit Lagerbewohner:innen auszusehen hat, ist unter den unterschiedlichen Alliierten umstritten.

Ein gescheitertes Unternehmen?

Trotz der erfolgreichen Repatriierung von Displaced Persons in ihre Herkunftsorte, zählt die UNRRA im Jahr 1947 als gescheitert. Noch immer befinden sich mehrere tausend Displaced Persons in Lagern verstreut in ehemaligen besetzten Gebieten und in Deutschland. Für viele von ihnen ist die Rückkehr entweder unmöglich oder mit großen Risiken verbunden. Dies betrifft neben den jüdischen Displaced Persons, die in eigenen jüdischen Lagern untergebracht sind, besonders viele DPs aus Osteuropa, Polen, der Sowjetunion und der Ukraine.

Da sie bei ihrer Rückkehr mit Strafmaßnahmen von Seiten der Regierung rechnen müssen, versuchen sie stattdessen andernorts auswandern zu dürfen. Was ihre Heimreise erschwert ist die propagierte Haltung von sowjetischer Seite, dass eine Gefangennahme und Verschleppung sowjetischer Bürger:innen im Krieg nicht vorgesehen sei. Wer nicht vom Feind:in erschossen wurde, zählt fortan als Verräter:in. Anderen DPs aus ehemals ostpolnischen Gebieten ist durch die Grenzverschiebung Richtung Westen eine Rückkehr in die alte Heimat nicht mehr möglich.

Für die Jüdinnen und Juden ermöglicht die relative Autonomie in den jüdischen Lagern eine Weiterentwicklung zionistischer Gedankengänge. Viele Lagerbewohner:innen wandern anschließend nach Palästina aus und sind an der neuen Staatsgründung beteiligt.

Auflösung und Nachfolge

Finanzielle Probleme, aber auch der Vorwurf, dass keine hundertprozentige Rückführung in ehemalige Herkunftsorte möglich ist, führen 1947 zur Auflösung der UNRRA. Als Nachfolgeorganisation wird die International Refugee Organization (IRO) eingerichtet. Statt einer Repatriierung setzt diese Organisation auf eine Weitervermittlung der Displaced Persons in andere Länder und Regionen als ihre Heimatorte. Resettlement wird diese Neuansiedlungsstrategie genannt.

Damit lässt sich das Problem neu entstehender Flüchtlingsbewegungen aufgrund andauernder und neuer Kriege nicht abschließend beheben. Im Jahr 1950 gründen die Vereinten Nationen aus diesem Grund die Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR. Sie kümmert sich bis heute um die Versorgung und Weitervermittlung von Geflüchteten und Asylsuchenden weltweit. 1951 wird als internationaler Lösungsansatz der „Flüchtlingsfrage“ außerdem die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet.

Die Existenz und Leistungen der UNRRA sind derweil weitestgehend in Vergessenheit geraten. Wichtige Ansätze wie das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe sind jedoch nach wie vor aktuell. Auch die globale Zusammenarbeit mit humanitärer Zielsetzung galt 1943 als Novum, das heute nicht mehr wegzudenken ist.

Titelbild: Logo der Vereinten Nationen.

Literatur:

https://www.lernort-lebach.de/orte/unrra-lager/.

https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/279392/75-jahre-un-fluechtlingshilfe/.

https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/die-unrra-hilfe-fuer-entwurzelte/1480718.

Quellen:

US-amerikanischer Nachrichtenbeitrag zur Gründung der UNRRA, November 1943.

US-amerikanischer Propagandafilm über Hintergründe und Aufgaben der UNRRA, 1944.

Broschüre, herausgegeben von der UNRRA über die Erfolge der Organisation, Februar 1947.

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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