Am 9. Mai wird in Russland alljährlich der „Tag des Sieges“ und damit die eigene Rolle als Siegesmacht im Zweiten Weltkrieg gefeiert. Bis heute nimmt dieses Gedenken eine zentrale Stellung im russischen Selbstbild ein und spiegelt auch die aktuellen Weltmachtansprüche des Landes wider. Grund genug, dass in westlichen Medien seit Wochen über die Bedeutung des Gedenktages im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine spekuliert wird. Dabei wird der „Tag des Sieges“ nicht allein in Russland gefeiert. Neben russischen Soldaten kämpften von 1941 bis 1945 auch Angehörige anderer, ehemaliger Sowjetstaaten in der Roten Armee – darunter zahlreiche Ukrainer.

20 Jahre verdrängtes Leid?

Vor 77 Jahren, in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 unterzeichnete die deutsche Delegation die Kapitulationsurkunde. Der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Bis heute wird der Sieg über das nationalsozialistische Deutsche Reich und seine Verbündeten in vielen Ländern der Welt gefeiert. Während die westlichen Staaten und Deutschland diesem Ereignis am 8. Mai gedenken, fallen die Feierlichkeiten in den meisten ehemaligen Sowjetstaaten auf den 9. Mai. Die Ursache für die abweichenden Daten sind unterschiedliche Zeitzonen.

Den Status eines wichtigen Nationalfeiertages erhielt der 9. Mai in der Sowjetunion jedoch erst Mitte der 1960er Jahre. Bis dahin galt das Datum, nach ausdrücklicher Deklaration Josef Stalins 1947, als normaler Arbeitstag. Dem Militär sollte bewusst nicht so viel Aufmerksamkeit zukommen. Außerdem bemühte sich der sowjetische Diktator besonders darum, dass die Bevölkerung die großen Verluste und negativen Folgen des Krieges möglichst bald vergaß. Statt der gemeinsamen Kriegserfahrung wurde nach wie vor an die Oktoberrevolution als das zentrale, verbindende Element der Sowjetstaaten erinnert.

Der „Tag des Sieges“ im Kalten Krieg

Ein Wandel trat schließlich mit dem Machtwechsel von Nikita Chruschtschow zum neuen Staatsoberhaupt Leonid Breschnew im Jahr 1965 ein. Da zum einen neue, positive Bezüge zu Stalin befürchtet wurden und zum anderen das Gedenken der Oktoberrevolution an Wirkung verlor, kehrte mit Breschnew eine Wende in der sowjetischen Erinnerungskultur ein. Der „Große vaterländische Krieg“ erhielt fortan eine zentrale Bedeutung im sowjetischen Selbstbild. So wurden nun auch die Gefallenen der Roten Armee gewürdigt.

Vor allem dominierte jedoch die positive Erinnerung an den gemeinsamen Sieg der Sowjetstaaten. Mit den Feierlichkeiten führte die Sowjetunion ihre militärische Stärke sowohl den Westmächten als auch der eigenen Bevölkerung vor Augen. Mit dem Selbstverständnis eines anti-faschistischen Staates ohne Führungsspitzen mit NS-Vergangenheit schloss sich auch die DDR 1975 diesem zentralen Gedenken an den Sieg über das Deutsche Reich an. Die neue, selbstbewusste Tradition der Sowjetunion setzten unter anderem große Militärparaden 1965, 1985 und 1990 demonstrativ in Szene. Ihr Aufmarsch sollte an die Moskauer Siegesparade im Juni 1945 erinnern.

Getrenntes Gedenken nach 1990

Mit dem Zusammenbruch des Sowjetunion 1990 fand auch der gemeinsame Feiertag ein jähes Ende. Ehemalige Ostblockstaaten versuchten sich nun bewusst von Russland und sowjetischen Inszenierungen abzugrenzen. Das Gedenken an den Sieg und die Verluste des Zweiten Weltkrieges blieb in den meisten Staaten jedoch präsent. Mit Kranzniederlegungen und eigenen, nationalen Staatsakten wird der 9. Mai unter anderem in Moldawien, Georgien, Belarus, Serbien, Montenegro und bis vor wenigen Jahren auch intensiv in der Ukraine gefeiert.

Die größte Aufmerksamkeit erhält der Gedenktag seit 2005 in Russland. 2008 wurde auch die Militärparade als zentrales Element der jährlichen Gedenkveranstaltung neu eingeführt. Statt des roten Sowjetsterns schmückt fortan das schwarz-orangene Sankt-Georgs-Band, ein militärisches Abzeichen aus dem russischen Kaiserreich, die Beteiligten. Aus dem Feiertag der vereinigten Sowjetstaaten ist ein nationaler, russischer Feiertag geworden. Seit der Krim-Annexion durch Russland 2014 dient das Sankt-Georgs-Band außerdem als ein Symbol der pro-russischer Demonstrat:innen und Separatist:innen innerhalb der Ostukraine.

9. Mai 2022 – der „Tag des Sieges“ im russischen Krieg

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 schauen westliche Politiker:innen und Russlandexpert:innen mit Sorge dem 9. Mai entgegen. Spekulationen kreisen um die Instrumentalisierung des Gedenktages für die gegenwärtige russische Propaganda gegen die Ukraine mit allen verbündeten Staaten. Gemäß der Behauptung Russland würde den vermeintlichen Nazismus in der Ukraine bekämpfen, liegt eine symbolische Verbindung des Sieges über die Nationalsozialist:innen im Zweiten Weltkrieg und des aktuellen Krieges in der russischen Propaganda nahe. In ihrem Bericht „Operation Z“ vom 22. April äußern die beiden Militärwissenschaftler Nick Reynolds und Jack Watling des britischen Royal United Services Institute die Vermutung, dass Putin im Zuge des Gedenktages die öffentliche Kriegserklärung an die Ukraine verkünden könne. Anders als unter der bisherigen Bezeichnung einer militärischen „Spezialoperation“ würde die offizielle Kriegserklärung die Mobilmachung der russischen Bevölkerung ermöglichen.

Auch die Feiern zum 9. Mai in anderen Ländern sind von dem Krieg gegen die Ukraine geprägt. In Deutschland feiern seit 2008 verschiedene Communities aus den ehemaligen Sowjetstaaten gemeinsam den „Tag des Sieges“. Zentrale Orte des Gedenkens sind beispielsweise das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin. Seit Beginn des Krieges wurden dort wiederholt pro-ukrainische Zeichen sowie Botschaften von Putin-Anhänger:innen und Kriegsbefürworter:innen hinterlassen. Die gemeinsame Gedenkfeier zur Schlacht der Roten Armee bei den Seelower Höhen nahe Berlin vom 16. bis 19. April 1945 spaltete sich dieses Jahr in eine pro-ukrainische und eine pro-russische Veranstaltung.

Auch vom gemeinsam gefeierten „Tag des Sieges“ grenzt sich die Ukraine seit 2015 schrittweise ab. Im Zusammenhang mit der wachsenden Bedrohung durch Russland und gegen seine politische Instrumentalisierung wurde dieser dezidiert zum „Tag des Sieges gegen den Nationalsozialismus“ umbenannt. Darüber hinaus finden Gedenkveranstaltungen mit Würdigung der ukrainischen Opfer im Zweiten Weltkrieg inzwischen inner- und außerhalb der Ukraine am 8. Mai statt.

Titelbild: Siegeskranz mit Sankt-Georgs-Band am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park, Foto: Bernd Brincken, gemeinfrei.

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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