1961 wanderten über zweihundert Menschen aus Deutschland und Österreich nach Chile aus, um dort eine religiöse Gemeinschaft zu gründen. Der Laienprediger Paul Schäfer hatte ihnen einen Neuanfang im „gelobten Land“ versprochen. Innerhalb kürzester Zeit wandelte sich die Siedlung mit dem (verkürzten) Namen Colonia Dignidad in eine abgeriegelte Sekte, deren Mitglieder von Schäfer schwer misshandelt und missbraucht wurden. Auch in das Verschwinden vieler Chilenen, die sich gegen die Militärdiktatur Pinochets stellten, war die Sekte stark verwickelt.

Als erster hochrangiger Politiker aus Deutschland besuchte der scheidende Bundesratspräsident Bodo Ramelow vorige Woche die betroffene Siedlung in Chile. Nach Gesprächen mit verschiedenen Opferverbänden appellierte er für einen verantwortungsvollen Umgang mit diesem düsteren Kapitel deutsch-chilenischer Geschichte von Seiten beider Landesregierungen. Dem Besuch wurde in deutschen Medien eine starke Symbolkraft zugeschrieben. Dabei drehen sich um die ehemalige Sekte handfeste juristische Fragen. Bis heute sind die Verbrechen der Colonia Dignidad nicht abschließend aufgeklärt. Auch der Verbleib des Geländes in den Händen ehemaliger Sektenmitglieder, seine Nutzung und die Forderungen der Opferverbände nach Entschädigungszahlungen sind Bestandteile andauernder Debatten sowie wissenschaftlicher Studien.

Eine Sekte aus Deutschland

Begonnen hatte die Geschichte der späteren kriminellen Sekte in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges. 1921 im heutigen Nordrhein-Westfalen geboren, entwickelte sich der Jugendpfleger Paul Schäfer mit ungefähr 30 Jahren zu einem einflussreichen Laienprediger. Nahe der Stadt Siegburg bei Köln gründete er 1956 einen überkonfessionellen, christlichen Verein, der sich der kostenlose Hilfe und Unterbringung von „bedürftigen Jugendlichen“ verschrieb. Helfen aus Nächstenliebe und damit christliche Nachfolge war das Ziel der Mitglieder und Anhänger:innen Schäfers.

Viele waren dazu bereit, ihr Leben ganz nach den Anweisungen ihres religiösen Anführers auszurichten. Dementsprechend folgten in den Jahren 1961 bis 1963 rund 250 Menschen Schäfers Ruf mit ihm nach Chile zu ziehen. Dort, im „gelobten Land“ wollten sie eine neue Heimat finden. Rund 15 Jahre zuvor hatten viele von ihnen ihre Herkunftsorte, deutsche Siedlungen in der Ukraine, Polen, Russland und weiteren Ländern, verlassen müssen. Außerdem warnte Schäfer sie eindringlich vor der kommunistischen Bedrohung in Deutschland. Was sie von Schäfer derweil nicht erfuhren, war der eigentliche Grund zur Auswanderung nach Chile: 1961 hatte eine strafrechtliche Verfolgung Paul Schäfers begonnen. Der Jugendpfleger hatte mindestens zwei Jungen sexuell missbraucht und musste demnach aus Deutschland fliehen.

Die Colonia Dignidad in Chile

In Chile angekommen nannte sich der Verein fortan „Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad“. In der Öffentlichkeit etablierte sich der Name Colonia Dignidad – die Kolonie der Würde. Auf etwa 15.000 Hektar, am Fuß der Anden, bauten die Siedler:innen einen großen landwirtschaftlichen Betrieb auf, der bald die Milch- und Brotversorgung der Umgebung sicherte. Auch eine Schule und ein Krankenhaus befanden sich auf dem Siedlungsgelände, wo auch chilenische Kinder kostenlos versorgt und unterrichtet wurden. Dementsprechend stieg das Ansehen der deutschen Gemeinschaft rasch. Vom chilenischen Staat wurde sie sogar als wohltätiger Verein anerkannt und musste fortan keine Zölle mehr zahlen.

Was nach außen beeindruckend und vorbildlich schien war in Wirklichkeit aber das Ergebnis harter Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen. Innerhalb weniger Jahre wandelte sich die Siedlung in ein Arbeitslager für ihre Mitglieder. Auf Anordnung Schäfers wurden seine Anhängerschaft streng in Erwachsene und Kinder, Jungen und Mädchen, Männer und Frauen getrennt. Auch innerhalb der gleichgeschlechtlichen Gruppen verbot der Sektenführer jede Form von zwischenmenschlicher Beziehung und Sexualität. Wer in dieser Hinsicht seine Regeln zu verletzen schien, wurde vor den anderen bloßgestellt und verprügelt.

Derweil war das Leben in der Colonia Dignidad von harter körperlicher Arbeit gekennzeichnet. Sieben Tage die Woche und ohne Lohn hielten die Siedlungsbewohner:innen den landwirtschaftlichen Betrieb sowie die anderen Siedlungseinrichtungen am Laufen. Trotzdem verehrten viele der Sektenmitglieder ihren Anführer, von dem sie völlig abhängig waren.

Die bröckelnde Fassade

Erst allmählich drangen aus der Kolonie Hilferufe und Beschwerden nach außen. Einige Anhänger:innen, darunter Jugendliche und Kinder, wagten die Flucht. Weder die chilenischen Behörden noch die deutsche Botschaft schenkten ihnen jedoch Gehör. Stattdessen schickten sie sie in die Siedlung zurück. Dabei stellte die Colonia Dignidad vor allem für die Jungen eine doppelte Bedrohung dar.

Hilferufen, nachträglichen Berichten und Untersuchungen zufolge wurden ca. 200 Jungen von Schäfer und anderen Männern des Führungszirkels sexuell missbraucht. Mit Elektroschocks und Medikamenten ließ sie Schäfer im bekannten, modernen Siedlungskrankenhaus gefügig machen. Neben den deutschen Kindern der Siedlung befanden sich unter seinen Opfern auch chilenische Jungen. Trotz massiver Bedrohung machten ihre Mütter erstmals mit Klagen und Protesten auf die Verbrechen in der Colonia Dignidad aufmerksam.

Chilenischer Diktator und deutsche Helfer:innen

Ab 1977 berichteten internationale Medien und Organisationen wie Amnesty International wiederholt von Menschenrechtsverbrechen in der Colonia Dignidad. Zunächst zeigte der chilenische Staat jedoch kein Interesse an polizeilichen Untersuchen gegen die deutsche Siedlung. Ein entscheidender Grund für diese Zurückhaltung war die Zusammenarbeit der Sekte mit dem faschistischen Regime Chiles seit Beginn der 1970er Jahre.

Am 11. September 1973 gelangte der General und folgende Diktator Augusto Pinochet mit einem Militärputsch an die Macht. Gemeinsam mit Schäfer teilte Pinochet einen ausgeprägten Antikommunismus. Mithilfe der Zollfreiheit hatte dieser ihm Waffen aus Deutschland verschafft, die unter anderem zum Erfolg des Putsches beitrugen. Mit seinen inzwischen weitreichenden Kontakten sammelte der Sektenführer außerdem Informationen über die Außenwelt um die Colonia Dignidad, die er dem chilenischen Geheimdienst DINA zur Verfügung stellte. Die Zusammenarbeit Schäfers mit dem faschistischen Diktator ging jedoch noch weiter.

Nachdem Pinochet seine Militärdiktatur in Chile errichtet hatte, verschwanden nach und nach mehrere Oppositionelle des Regimes. Inzwischen ist bekannt, dass viele von ihnen auf das Gelände der Colonia Dignidad verschleppt, dort gefoltert und ermordet wurden. Schäfer hatte der DINA hierfür einen unterirdischen Kartoffelkeller zur Verfügung gestellt. Manche der Gefangenen ließ Schäfer wiederum im berüchtigten Krankenhaus von angestellten Siedler:innen „behandeln“. Dabei handelte es sich um mehrere, oft tödlich endende Menschenversuche.

Untersuchung und Auflösung der Colonia Dignidad

Hatten die chilenischen Behörden innerhalb der Militär-Diktatur ihre Gründe von einer strafrechtlichen Verfolgung Schäfers abzusehen, erklärt das nicht die Haltung deutscher Behörden zu den Vorwürfen gegen ihn und seine Sekte. Mit der steigenden wirtschaftlichen Bedeutung der Colonia Dignidad hatte Schäfer seine Kontakte und seinen Einfluss auch auf deutsche Politiker:innen ausgeweitet. Trotz sich häufender Beschwerden, Hilferufe und Schäfers ursprünglicher, strafrechtlicher Verfolgung in Deutschland besuchten Politiker wie Franz Josef Strauß noch Ende der 1970er Jahre die Kolonie.

Innerhalb Chiles begannen die Ermittlungen gegen Schäfer schließlich 1996, sechs Jahre nach der Entmachtung Pinochets. Daraufhin floh er 1997, bereits zum zweiten Mal in seinem Leben, vor der juristischen Verfolgung ins Ausland. Erst 2004 wurde er in Argentinien gefasst und in Chile zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Die Anklage beinhaltete den Vorwurf der Entführung, der Zwangsadoption, der Steuerhinterziehung, Verstöße gegen das Arbeitsgesetz, des Zoll- und nicht zuletzt des Kindesmissbrauchs. Sechs Jahre später, im Jahr 2010, starb Paul Schäfer im Krankenhaus eines Gefängnisses von Santiago di Chile.

Opfer oder Täter:innen?

Nach der Verhaftung Schäfers wurden weitere Führungsmitglieder der Sekte und Beteiligte seiner Verbrechen inhaftiert. Dabei wurden nicht alle strafrechtlich belangt. Die Sekte hatte sich inzwischen aufgelöst. In einem offenen Brief gestanden 2006 140 ehemalige Mitglieder ihre Mitschuld an den Verbrechen, da sie Schäfer nicht aufgehalten hätten. Die Unterzeichner:innen gaben jedoch weiterhin an, keine Kenntnisse über die einzelnen Verbrechen gehabt zu haben. Aufgrund ihres eigenen Missbrauchs durch Schäfer bekommen sie je nach Perspektive den Status als Opfer oder als Täter:innen zugeschrieben. Um ihre Versorgung nach der Auflösung der Sekte zu sichern, werden sie seit 2018 von einem Hilfsfond aus Deutschland unterstützt.

Nach Protesten, unter anderem innerhalb Deutschlands, erhalten seit 2020 auch Angehörige der chilenischen Opfer Hilfsgelder des deutschen Staates. Der Prozess der Aufklärung und Aufarbeitung der Verbrechen ist derweil noch lange nicht abgeschlossen. Nach wie vor wird nach sterblichen Überresten verschwundener Oppositioneller auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad gesucht. Deutsche Behörden haben ihre Ermittlungen inzwischen aber eingestellt. Dass Deutschland überhaupt eine Mitverantwortung für die Verbrechen in der deutschen Siedlung zu tragen habe, betonte erst Frank-Walter Steinmeier in seinem Amt als Außenminister 2016.

Das Erbe der Colonia Dignidad

Ab 1986 wurde die Siedlung in Villa Baviera, bäuerliches Dorf, umbenannt. Unter diesem Namen besteht sie noch heute. Das Gelände und die Immobilien sind zum Großteil in den Besitz der ehemaligen Sektenmitglieder übergegangen. Wie sich die Eigentumsverhältnisse gerecht klären lassen, ist dabei noch unklar. Auch der Umgang mit dem Gelände ist Anlass zu anhaltenden Konflikten. Auf der einen Seite pochen vor allem chilenische Angehörige der Vermissten, wenige ehemalige Sektenmitglieder und verschiedene Menschenrechtsorganisationen auf eine verstärkte Öffnung des Geländes für weitere Untersuchungen und die Umgestaltung zu einer Gedenkstätte.

Auf der anderen Seite steht der Großteil der Siedler:innen. Siebzig von ihnen wohnen noch heute in der Villa Baviera. Sie benötigen das Land für ihre landwirtschaftlichen Kleinbetriebe. Auch von Touristinnen und Touristen wird das Gelände gerne genutzt. In den ehemaligen Gemeinschaftsräumen der Siedlung werden ihnen neben „typisch deutscher“ Musik deutsche Gerichte angeboten. Die Betreiber:innen und ehemaligen Mitglieder der Colonia Dignidad begründen diese Nutzung mit einem notwendigen Blick in die Zukunft. Die Vergangenheit solle besser vergessen werden. Auch Schäfer wollen sie vergeben.

Titelbild: Blick auf den Schulhof der Privatschule Villa Baviera. Foto: Xarucoponce (Wikimedia) unter dem Titel "Escuela de Villa Baviera (ex Colonia Dignidad)", CC BY-SA 3.0. 

Über den Autor

Ines S.

Ines studiert Public History an der Freien Universität Berlin.

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