Die neue Handreichung zur Spurensuche lokaler Migrationsgeschichte in Ostdeutschland ist endlich erschienen.

Spurensuche zur Migrationsgeschichte in Ostdeutschland

In den aktuellen und vergangenen Zuwanderungsdebatten geht es vor allem um die steigenden Zahlen von Geflüchteten, die nach Deutschland kommen. Dabei gerät oft in Vergessenheit: Deutschland erlebt nicht zum ersten Mal eine erhöhte Migration. Wanderungsbewegungen und transnationale Lebenswirklichkeiten prägten und prägen seit jeher den Lebensalltag. Schon lange wandern Menschen nach Deutschland ein. Andere verlassen das Land, um anderswo ihr Glück zu suchen. Diesen verschiedenen Zu- und Abwanderungsbewegungen lokal, vor der eigenen Haustür, in einer Spurensuche nachzugehen, ist ein Schwerpunkt der Publikation: Auf den Spuren von Migration in Strasburg (Uckermark). Eine Handreichung zur Spurensuche lokaler Migrationsgeschichte in Ostdeutschland.

Nach der bereits erschienenen Publikation Auf den Spuren von Migration in Wolfsburg liegt der Fokus dieses Bandes auf Ostdeutschland. Denn hier unterscheiden sich mitunter die Migrationsprozesse und der Umgang damit von denen in Westdeutschland; vor allem in der Zeit zwischen1945 und 1990

Referenzpunkt dieser Publikation ist die Migrationsgeschichte der uckermärkischen Kleinstadt Strasburg. Von diesem Ort ausgehend, werden verschiedene Möglichkeiten der lokalen Spurensuche, der Sichtbarmachung und Präsentation von örtlicher Migrationsgeschichte entwickelt. Dabei versteht die Publikation Migrationsgesellschaft als eine Gesellschaft, die von Zu- und Abwanderung geprägt ist.

Migrationsgeschichte in Ostdeutschland

Grundsätzlich erstreckten sich die verschiedenen historischen Migrationsphasen auf mehr oder weniger alle Regionen Deutschlands. Seien es die französischen Glaubensflüchtlinge (Hugenotten), die im 17. Jahrhundert nach Osten geflohen waren und sich in verschiedenen Teilen des heutigen Deutschlands ansiedelten. Seien es die Millionen Auswander:innen, die im 19. Jahrhundert aus politischen Gründen und vor der Hungersnot nach Amerika ausgewandert waren. Oder die vielen Wanderarbeiter:innen, die seit dem 19. Jahrhundert aus dem Osten zur Arbeit gekommen waren, erst als Erntehelfer:innen, später als Arbeitskräfte in der Industrie und Kriegswirtschaft.

Trotzdem können Unterschiede zwischen den Migrationsprozessen in Ost- und Westdeutschland ausgemacht werden. Sie sind unter anderem auf geographische und politische Umstände zurückzuführen.

So hat beispielsweise die zeitlich begrenzte Migration von Erntehelfer:innen aus Polen nach Deutschland eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Schon damals gab es viele Wanderarbeiter:innen, die nach Westen gingen. Dafür gibt es im Polnischen sogar einen Begriff. Man sagt: »Na saksy«, nach Sachsen gehen. Im Deutschen spricht man von »Sachsengängerei«, weil Sachsen im 19. Jahrhundert eines der Hauptziele polnischsprachiger Wanderarbeiter:innen war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die sowjetisch besetzte Zone (SBZ) aufgrund ihrer geographisch nahen Lage zu Osteuropa mehr geflüchtete und vertriebene Deutsche aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie auf als die anderen Besatzungszonen. Das bedeutete für die SBZ eine enorme Herausforderung. 4.379.000 Geflüchtete und Vertriebene wurden zwischen 1945 und 1947 allein in der Sowjetischen Besatzungszone aufgenommen, das war ein Anteil von 24,3 Prozent an der Gesamtbevölkerung. [Im Vergleich: Amerikanische Besatzungszone 2.957.000 10 Geflüchtete und Vertriebene, 17,7 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung; Britische Besatzungszone 3.320.000 Geflüchtete und Vertriebene, 14,5 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung; Französische Besatzungszone 60.000 Geflüchtete und Vertriebene, 1,0 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung.]

Allerdings war die Staatsführung der DDR bemüht, einen gesellschaftlichen Diskurs darüber zu unterbinden. Während in der Bundesrepublik Vertriebene ihre eigenen Vereine gründeten und zu einer einflussreichen Gruppe wurden, war es in der DDR tabu, öffentlich über die alte Heimat und Flucht zu sprechen. Vertriebene galten als potenzieller Unruhefaktor, den das System der DDR möglichst ruhigstellen wollte. Damit wurden auch Quellen der Dokumentation, Aufarbeitung und Erinnerung abgeschnitten, was eine lokale Spurensuche heute erschwert.

Zwei Einwanderungskulturen in Ost und West

Als die Mauer im November 1989 fiel, lebten in der DDR 16,43 Millionen DDR-Bürger:innen und mehr als 192.000 ausländische Staatsangehörige. Das entsprach etwa einem Prozent der DDR-Bevölkerung. Im selben Jahr lebten in der Bundesrepublik 5.010.000 Ausländer:innen, was einen Anteil von acht Prozent an der Bevölkerung ausmachte. Der Migrationshistoriker Jochen Oltmer geht sogar so weit, von zwei Einwanderungskulturen in Ost und West zu sprechen. Während Oltmer zufolge die Einwanderungskultur in der Bundesrepublik ihren Ursprung in der Arbeitsmigration der 1960er und 70er Jahre habe, kämen im Osten nach der Wiedervereinigung Zuwander:innen vor allem als Asylbewerber:innen, die nach dem Königsteiner Schlüssel den Neuen Bundesländern zugeteilt wurden. Anders als Arbeitsmigrant:innen, so folgert Oltmer, würden diese oftmals von der lokalen Bevölkerung eher als Belastung, denn als eine Ressource angesehen.

Lokale Spurensuche – nicht jede Spur ist sichtbar

Wer sich auf den Weg macht, den Spuren der Geschichte vor Ort nachzugehen, wird schnell feststellen, wie unterschiedlich präsent die verschiedenen Themen sind. Während die mittelalterliche Geschichte oder die Geschichte des 18. und 19 Jahrhunderts oft durch Ortschronisten festgehalten wurde und im Idealfall im Ortsmuseum dargestellt ist, sieht es bei jüngerer Geschichte in den meisten Fällen schlechter aus. Es gibt z.N.

  • Sichtbare Migrationsgeschichte: Migrationsgeschichten, zu denen es bereits viele Quellen und sichtbare Spuren gibt, die als Migrationsgeschichte sichtbar gemacht wurden und mit denen gearbeitet wird.
  • Sichtbare Geschichte – Unsichtbare Migrationsgeschichte: Spuren von Zu- und Abwanderung sind sichtbar, aber noch nicht als
    Migrationsgeschichte bearbeitet und dargestellt
  • Unsichtbare Geschichte – Unsichtbare Migrationsgeschichte: Zu- und Abwanderungsgeschichten, die bisher nur mündlich weiter getragen wurden und noch nicht recherchiert oder dokumentiert sind.

Spurensuche. Ziel der Publikation

Es bedarf eines geweiteten Verständnisses von Erinnerungskultur, nicht zuletzt um die Gruppe der Zugewanderten als gleichberechtigte Menschen der Stadt oder der Region anzuerkennen. Es gilt, Migrationsgeschichten, Alltagserfahrungen und -praktiken von Migrant:innen als Teil der Ortsgeschichte im kollektiven Gedächtnis zu verankern

Diese historische Genese von Zu- und Wegzug an einem Ort sichtbar zu machen, kann für aktuelle Migrationsprozesse sensibilisieren. Denn bei aller Reibung, die Migration mit sich bringt, kann es auch eine Bereicherung für einen Ort sein; so wird sie jedenfalls in Strasburg wahrgenommen. Zu fragen ist also: Wie haben solche Integrationsprozesse in der Vergangenheit funktioniert? Wie liefen die Aushandlungsprozesse und was können wir eventuell für uns heute davon lernen? Gerade für die jüngere Zuwanderungsgeschichte gilt es, die Perspektiven der Migrant:innen, die nach Deutschland kamen, endlich hinreichend im kollektiven Gedächtnis zu repräsentieren. Jahrzehnte- bzw. jahrhundertelange migrantische Anwesenheit in Ost- und Westdeutschland wird noch zu wenig benannt. Zielführend ist daher eine Spurensuche und Geschichtsvermittlung, die auf die Vielfalt der Erinnerungen und Perspektiven in der Migrationsgesellschaft eingeht.

Was erwartet den Leser?

In sieben Kapiteln gehen wir auf Zu- und Abwanderungsgeschichten in der Stadt ein. Dabei handelt es sich um Gruppen, die zu ähnlichen Zeiten auch in anderen Teilen Ostdeutschlands ein neues oder temporäres Zuhause gefunden haben könnten. Wir stellen sie in ihrem historischen Kontext dar, beschreiben, welche möglichen Quellen es für eine Spurensuche gibt – oder auch nicht gibt – und wie man diese Quellen finden und erforschen kann. In einem dritten Schritt machen wir anhand der Strasburger Migrationsgeschichte praktische Vorschläge, wie die erforschte Geschichte für die Vermittlung aufbereitet und sichtbar gemacht werden kann. Ein eigener praktischer Methodenteil gibt darüber Auskunft.

Blick in die Publikation Auf den Spuren von Migration in Strasburg (Uckermark). Eine Handreichung zur Spurensuche lokaler Migrationsgeschichte in Ostdeutschland.

Akteure und Multiplikator:innen in ostdeutschen Kommunen

Die vorliegende Publikation richtet sich in erster Linie an Akteure und Multiplikator:innen in ostdeutschen Kommunen, aber auch an alle anderen Interessierten. Mit dieser Handreichung möchte Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. dazu ermutigen, die Migrationsgeschichte vor Ort zu erkunden und als Teil der Ortsgeschichte sichtbar zu machen. Es gilt, Migration und den Zuzug von Menschen als etwas aufzuzeigen, was schon seit vielen Jahrhunderten eine gängige Bewegung ist und den Orten mitunter erst das Fundament gab, das Überleben sicherte und den Ort belebte. Nicht zuletzt kann eine Spurensuche auch einen Beitrag zur Strukturstärkung und Sichtbarmachung von historischer Vielfalt in Ostdeutschland leisten.

Wo gibt es die Publikation „Spurensuche zur Migrationsgeschichte in Ostdeutschland“?

Cover der Handreichung

Annalena Baasch, Barnim Rödiger, Ines Schröder, Ruth Wunnicke (Hrsg.): Auf den Spuren von Migration in Strasburg (Uckermark). Eine Handreichung zur Spurensuche lokaler Migrationsgeschichte in Ostdeutschland.

Eine Publikation von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in Kooperation mit dem Heimatmuseum Strasburg (Uckermark) und dem Uckermärkischen Heimatkreis Strasburg e.V., Berlin 2023.

Die 84seitige Handreichung kann bei Interesse in unserer Geschäftsstelle kostenfrei bestellt oder → hier heruntergeladen werden.

Titelbild: Cover Handreichung

Über den Autor

SEITEN:BLICK

arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. Der Begriff SEITEN:BLICK steht für die Blicke, die wir links, rechts und hinter "die Dinge" werfen wollen.

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