Der Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei, der sich im Oktober zum 60. Mal jährte, hat seinen Weg durch die Presse genommen. Filme mit Originalaufnahmen aus den 60er Jahren konnten wir sehen. Erinnerungen, wissenschaftliche Analysen und Podiumsdiskussionen über den Stand der Integration lesen. Wir haben Interviews mit Zeitzeug:inen und Nachgeborenen gehört. Projekte zum Thema, gefördert über Mittel des Bundes oder der Länder, werben um unsere Aufmerksamkeit.

Doch eine Aktion hebt sich ab. Ein Zufallsfund bei einer Internetrecherche. Es ist der private Blog Anwerbeankommen.de zweier Deutscher mit türkischen Wurzeln.

Von ungelernten Arbeitskräften zu Stützen der Gesellschaft

Dr. Elif Duygu Cindik-Herbrüggen und Nejdet Niflioglu. starteten am 1. Januar 2021 den Blog Anwerbeabkommen.de „60 Jahre Anwerbeabkommen“. Die Münchner Therapeutin, Psychiaterin und Gesundheitswissenschaftlerin und der Stuttgarter Industriekaufmann und Betriebswirt fangen auf ihrem Blog ein Stück Zeitgeschichte aus der Mitte der Gesellschaft ein. Und das ohne Fördermittel. Eine private Herzensangelegenheit von zwei Menschen, hinter der viel Arbeit steckt. Seit Januar 2021 führen sie bundesweit Interviews; inzwischen sind es 59. Ihre Interviewpartner:innen sind gut ausgebildete, erfolgreiche Menschen, Ärzt:innen, Jurist:innen, Manager:innen, Wissenschaftler:innen, Unternehmer:innen, Künstler:innen, Sportler:innen … Was sie eint, ist eine mittelbare oder unmittelbare Migrationsgeschichte aus der Türkei. Sie alle wirken sowohl für die Herkunftsgesellschaft ihrer Eltern als auch für die deutsche Gesellschaft als Vorbilder. So heißt es im Blog „Viele Beispiele zeigen, dass die Enkel von ungelernten Arbeitskräten hochwertige Bildungsangeobte wahrnehmen und sich in vielfältigen gemeinnützigen Engegements als Stützen der Gesellschaft etablieren. Mittlerweile sind sie in allen Bereichen des täglichen Lebens fest eingegliedert und kaum noch weg zu denken.“

Anwerbeabkommen.de will hidden Champions sichtbar machen

Ziel des Blogs ist es, neben dem aktuell wohl berühmtesten türkischstämmigen Forscherpaar Özlem Türci und Uğur Şahin viele andere „hidden Champions“ sichtbar zu machen. Menschen, die schon seit Jahren täglich Großartiges leisten.

Es sind mitunter sehr persönliche Geschichten. Sie erzählen vom Ankommen, Leben, Rückkehr und Visionen für eine gemeinsame Zukunft. Und es liegt nahe, dass die Geschichten ein Stück weit auch die eigenen Geschichte der beiden Blog-Autor:innen Dr. Elif Duygu Cindik-Herbrüggen und Nejdet Niflioglu erzählen. Cindik wurde 1970 in Istanbul geboren und wuchs ab 1971 in Neu-Isenburg auf. Nach Abschluss eines Medizinstudiums in Frankfurt am Main und New York führten sie ihre Promotionsarbeit und der Studiengang Master of Public Health an die Universität Harvard in Boston. Sie war stellvertretende Vorsitzende und gesundheitspolitische Sprecherin der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Für die SPD kandidierte sie 2013 für den Bayerischen Landtag. Ihr Co-Blogger Nejdet Niflioglu wurde 1969 von seinen Eltern aus der Türkei ins schwäbische Wernau geholt. Auf seine Lehre als Kunststoffformgeber folgte eine kaufmännische Ausbildung und ein BWL Studium. 1990 trat er seine Arbeit in der Daimlerkonzernzentrale in Untertürkheim an. Er wolle das typische Bild vom Türken am Fließband, im Blaumann und mit ölverschmierten Hände ändern, erzählt er später. Gemeinsam mit fünf türkischstämmigen Mitarbeitern gründete er 1992 den Daimler-Türk-Treff. Er ist das größte und älteste Mitarbeiternetzwerk in Deutschland. Heute zählen sie 1.500 aktive Mitglieder weltweit. Dafür wurde Nejdet Niflioglu im Oktober 2013 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Mehr Ehrgeiz, mehr Schweiß, mehr Fleiß

Das ist das Motto, dass sich durch viele Interviews zieht. Denn mit einem Migationshintergund muß immer mehr geleistet werden, um Wahrnehmung zu erfahen. Hinzu komm die Tatsache, dass viele der Interviewten nicht aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern mir akademischem Hintergund stammen. Ihre Eltern konnten nur wenig oder kaum Deutsch und waren ungelernte Arbeiter. Es ist nicht nur die Anstrengung des Milieuaufstiegs, sondern auch die ofmals negativ konnotierte Zuschreibung als Migrant, die ihre Aufstiege doppelt Kraft und Anstengung kosten ließ.

„Ich hatte keine guten Voraussetzungen.“ erinnert sich Dr. Duygu Tessmar. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und geschäftsführende Oberärztin das Klinikums Karlsruhe. Weiter erzählt sie im Interview: „Ich bin auf 60 m2 groß geworden und hatte zwei Schwestern. Wir waren fünf Personen. Ich hatte nie ein Zimmer, in das ich mich zurückziehen konnte. Ich habe nachts in der Küche gelernt. Und trotzdem habe ich ein Abitur von 1,0 gemacht, weil ich mir Mühe gegeben habe.“ Der Kontrast zu ihren Freunden, die mit Klavierunterricht und Urlaubsreisen aufwuchsen, habe sie geprägt, erinnert sie sich. Ähnlich beschreibt es die 47jährige Lale Yıldırım. „Wir erfüllen so ziemlich alle bekannten Klischees, wenn es zu Gastarbeiter*innen und ihre Familiengeschichte in Deutschland geht.“ Ihre Eltern kamen 1969 nach Deutschland. Heute ist Yıldırım Professorin für Geschichtsdidaktik an der Universität Osnabrück. 

Ein Potpourrie an Lebengeschichten auf Anwerbeabkommen.de

Die unverstellten Blicke auf die unterschiedlichen Lebenswege der Interviewten lohnen, sich Zeit zu nehmen. Die 59 Interverviews auf Anwerbeabkommen.de geben Zeugnis von der Bereicherung durch Migration. Als Unternhemer:innen, Manager:innen, Politker:innen, Rechtanwälte, Künstler:innen, Fachkräfte in Forschung und Industrie sind sie ein Garant für die Innovationskraft Deutschlands.

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SEITEN:BLICK

arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. Der Begriff SEITEN:BLICK steht für die Blicke, die wir links, rechts und hinter "die Dinge" werfen wollen.

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