Nach den Weltkriegen und den Verbrechen des Nationalsozialismus formulierte man in der deutschen Gesellschaft den Anspruch nach einem „Nie wieder“. Nie wieder soll Menschenhass so fest in einer Gesellschaft verankert sein, dass er zu Massenmord und Genoziden führt. Nie wieder sollen Menschen so sehr diskriminiert und verfolgt werden, dass sie in ständiger Angst leben müssen. Diese Forderung ist jedoch gerade aktueller denn je. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem stetig wachsenden Erfolg der AfD, wie auch in den letzten drei Landtagswahlen erkennbar, werden antisemitische, rassistische, rechtspopulistische und auch rechtsextreme Äußerungen zunehmend Teil des öffentlichen Diskurses. Wie kann man diesen aber entgegentreten? Wie kann und muss dieses „Nie wieder“ gestaltet werden? Und welchen Herausforderungen muss sich historisch-politische Bildungsarbeit dabei stellen?
„NIE WIEDER – ABER WIE?“
Diesen Fragen wurde das Vernetzungstreffen am 10. Und 11. Oktober 2024 in Berlin gewidmet. Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. und das Anne Frank Zentrum e.V. in Kooperation mit der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand haben mit dem Vernetzungstreffen einen Raum geschaffen, in dem sich in der historisch-politischen Bildungsarbeit tätige Träger und Mitarbeiter*innen über ihre Erfahrungen austauschen konnten.
Das Thema „NIE WIEDER – ABER WIE? Aktuelle Anforderungen an die historisch-politische Bildung“ lud die Teilnehmenden dazu ein, persönliche Erfahrungen aus der historisch-politischen Bildungsarbeit zu teilen. So konnten sie ausgehend von Erfahrungsberichten Methoden für den Umgang mit genannten Herausforderungen konzipieren. Vor allem in Workshops sowie Vorträgen lernten sie Bewältigungsstrategien kennen.
Aktuelle Überforderung
Auftakt der Veranstaltung war ein Impulsvortrag von Dr. Elke Gryglewski, der Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. In ihrem Vortrag zeigte Elke Gryglewski anhand von verschiedenen Schlaglichtern auf, dass es viele aktuelle Herausforderungen schon immer bzw. auch schon in der Vergangenheit gegeben hat. Beispielsweise wurden Gedenkstätten 1993 nach dem rechtsextremistischen Anschlag in Mölln auch als Läuterungsorte gegen Rechtsextremismus angesehen. Außerdem waren laut Gryglewski Gedenkstätten schon lange vor der aktuellen politischen Situation ein Austragungsort von Konflikten. Menschen in Seminaren hatten und haben unterschiedliche Ansichten zu Konflikten, wie beim Krieg in Tschetschenien oder in der Ukraine.
Warum ist dann gerade jetzt diese Überforderung so präsent? Diese Frage ergründete Elke Gryglewski im zweiten Teil ihres Vortrages. Als mögliche Gründe nannte sie unter anderem den Konflikt im Nahen Osten mit seiner Komplexität und Emotionalität. Aber auch eine steigende Zahl von Angriffen auf Mitarbeiter*innen von Gedenkstätten und eine Verunsicherung durch Corona erkannte sie als Probleme. Indem sie ihre Erklärungsansätze nur anriss und in Fragen verpackte, setzte sie so Impulse für das Publikum.
Rechtsextremismus im bürgerlichen Gewand
Die Frage danach, mit welchen Anforderungen Engagierte in der historisch-politischen Bildung konfrontiert sind, war auch Thema der anschließenden Podiumsdiskussion. Furkan Yüksel, Bildungsreferent in der Anne Frank Bildungsstätte (Frankfurt Main), nannte das grundsätzliche Problem, dass viele Menschen Rechtsextremismus nicht mehr als solchen erkennen und wahrnehmen. Als Erklärungsansatz dafür führte er ein verändertes Auftreten von Rechtsextremist*innen an. Vor allem Anhänger*innen der Neuen Rechten würden sich in einem bürgerlichen Gewand präsentieren. Das erschwere eine Differenzierung zwischen rechtsextremistischen und verfassungskonformen Aussagen erheblich. Daraus schlussfolgerte er, dass das Bild „Nur Nazis sind rechtsextrem“ noch sehr weit in der Gesellschaft verbreitet sei. Dementsprechend stärker müsse darüber aufgeklärt werden.
Schwere Erreichbarkeit
Auch die Bildungsreferentin des Anne Frank Zentrums (Berlin) Jana Rosenfeld berichtete davon, dass Rechtsextremismus immer schwieriger zu erkennen sei. Dadurch, dass rechtsextreme Positionen normalisiert wurden und werden, seien sie nicht mehr einfach und eindeutig zu identifizieren. Somit steige ihr Zuwachs in einem in der Bundesrepublik noch nie da gewesenen Maß rasant an. Dieser Anstieg erschwere auch die Erreichbarkeit von demokratieskeptischen und weniger involvierten Menschen vor Ort. Denn deswegen trauen sich von Rechtsextremismus Betroffene nur noch vereinzelt, vor Ort zu sein und nahe Brenn- und Knotenpunkten aufzuklären.
Spürbarer Einfluss der AfD
Andreas Froese stellte als Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora im thüringischen Nordhausen eine andere Perspektive vor. In Nordhausen wurde erst kürzlich mit Stimmen demokratischer Parteien ein AfD-Politiker zum Vorsitzenden des Stadtrates gewählt. Als die Brandmauer zu fallen begann und demokratische Parteien einen antidemokratischen Stadtrat mit ihren Stimmen unterstützten, fing er deswegen an zu hinterfragen, wie verlässlich selbst demokratische Vereine noch sind. Denn der Einfluss der AfD werde mehr und mehr spürbar, auch bei ihm teamintern. Das resultierte für ihn besonders in einem Gefühl, von eigentlich demokratischen Kräften allein gelassen worden zu sein.
Man ist nicht allein
Um diese Frustration und das vielleicht hin und wieder einkehrende Gefühl der Ohnmacht bewältigen zu können, betonten alle drei Referent*innen, wie wichtig es sei, sich ein Netzwerk zu schaffen. Räume zu errichten, in denen Menschen die Möglichkeit haben, etwas zu bewegen und sich mit anderen Menschen zu vernetzen, schafft einen Mehrwert und stärkt die Demokratie, aber auch einen selbst. Diese Gruppen an Menschen erinnern einen, dass man, anders als es das Gefühl wie von Andreas Froese es manchmal vermitteln will, nicht allein ist. Damit er nicht ausbrennt, führt er sich deswegen immer wieder vor Augen: 70% der Bevölkerung haben eben auch nicht die AfD gewählt. Mit dieser Einstellung sucht er den Kontakt zu Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen. So stärkt er Engagierte vor Ort und kann, wenn auch nicht für alle, einen wichtigen Impuls setzen.
Befähigung zu Selbstwirksamkeit
Jana Rosenfeld und Furkan Yüksel bemerkten in ihrer Arbeit mit Jugendlichen Ähnliches. Es ist essenziell, langfristig mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten und sie zu Selbstengagement und Selbstwirksamkeit zu ermutigen. Dadurch befähigen sie Menschen, etwas selbst und gemeinsam zu bewirken, was wiederum weitere Vernetzung provoziert. Besonders der Aktualitätsbezug in ihrer Arbeit ist ihnen wichtig. Im Umgang mit aktuellen Konflikten stellt sich Jana Rosenfeld bzw. das Anne Frank Zentrum immer wieder die Frage, wo sie in der Ausstellung aktuelle Konflikte thematisiert können, beispielsweise durch ausgestellte QR-Codes mit Links zu Beratungen. Unter anderem das war auch Anlass für das Schlusswort Elke Gryglewskis: Wichtig ist es vor allem, sich der Spezifik jeder Institution bewusst zu werden und anschließend davon ausgehend das „Nie wieder“ aus verschiedenen Perspektiven plausibel zu machen. Denn dieses Plausibilisieren ist eine Notwendigkeit, damit die Menschen Phänomene wie Rechtsextremismus, Antisemitismus und andere Diskriminierungsformen überhaupt erst wahrnehmen und verstehen können.
Workshops
Am Nachmittag boten fünf verschiedene Workshops Anlass zur praxisbezogenen Vertiefung einiger Themen.
Die historisch-politische Bildungsarbeit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Im Workshop „Die historisch-politische Bildungsarbeit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und aktuelle Herausforderungen“ stellten Dr. Christine Müller-Botsch und Sabine Sieg die Bildungsarbeit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand vor. Diese Arbeit verknüpften sie mit persönlichen Erfahrungen der Teilnehmenden. Dabei wurden Herausforderungen und Lösungsansätze in der Bildungsarbeit, die die Teilnehmenden ausgehend von eigenen Erfahrungen sammelten, in Relation zur Gedenkstätte Deutscher Widerstand gesetzt. Sie diskutierten, welche Rolle die Aufklärung über Widerstand im Nationalsozialismus in der Bildungsarbeit einnehmen kann, aber auch muss.
‘Freiberg für alle‘
Im Workshop „‘Freiberg für alle‘ – Aus dem Bündnis auf die politische Ebene. Vom praktischen Umgang mit zunehmenden rechtspopulistischen Meinungen und Parteien in Freiberg (Sachsen) und dem Gefühl von einer auseinanderdriftenden Gesellschaft im kommunalen Raum“ präsentierten Anne Mertens und Stefan Benkert die Arbeit des Netzwerks, unter anderem vor der Landtagswahl in Sachsen am 01. September 2024. Gemeinsam mit den Teilnehmenden sprachen sie darüber, wie eine Lokalinitiative in Sachsen während des Anstieges rechtspopulistischer Meinungen vor Ort erfolgreich sein kann und welche Menschen wie erreicht werden können.
Jüdisch-Muslimische Allianzen
Die Jugendbotschafterin von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Meis Alkhafaji beleuchtete in ihrem Workshop „Jüdisch-Muslimische Allianzen – Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus zusammendenken“ die Interferenzen dieser beiden Diskriminierungsformen. So wurde beispielsweise deutlich, dass eine Person, die antisemitisch ist, mit höherer Wahrscheinlichkeit auch rassistisch ist; diese Phänomene also multiperspektivisch zu betrachten sind. Davon ausgehend bot der Workshop Raum für eine Diskussion darüber, wie jüdisch-muslimische Bündnisse vor allem zu Zeiten des Krieges im Nahen Osten gestärkt werden können.
Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus
Die aktuelle Situation im Nahen Osten beschäftigte auch Teilnehmende des Workshops „Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus“ unter der Leitung von Jana Rosenfeld und Franziska Göpner aus dem Anne Frank Zentrum. Dabei bekamen sie durch Anschauen eines Interviews einen Einblick in die Betroffenenperspektive. Sie diskutierten viel, so zum Beispiel über den Umgang mit Emotionen, die mit dem Thema oft einhergehen, oder über die Bedeutung von Äußerungen in selbst erfahrenen Alltagssituationen. Zugleich betonten Jana Rosenfeld und Franziska Göpner, dass Wahrnehmungen differieren können und deswegen nicht zwangsläufig nur eine Person recht hat. Kern des Workshops war auch die Frage, wie man mit antisemitischen Aussagen umgehen kann.
TikToxic – Antisemitismus und Rassismus auf TikTok erkennen
Furkan Yüksel aus der Bildungsstätte Anne Frank und die Teilnehmenden seines Workshops „TikToxic – Antisemitismus und Rassismus auf TikTok erkennen“ beschäftigten sich mit der digitalen Welt bzw. vor allem mit dem Gefahrenpotenzial von TikTok. Hierfür wurden Trends, Strategien und Ästhetik in sozialen Medien thematisiert. Insbesondere die Rolle der (extremen) Rechten mit ihren rassistischen und antisemitischen Aussagen auf TikTok war ein Thema. Abschließend sammelten die Teilnehmenden Antworten zu den Fragen, wie historisch-politische Bildung auf TikTok gelingen kann und welche Möglichkeiten es gibt, digitale und analoge Bildungsarbeit zu verbinden. Weitere Informationen dazu im kostenlosen E-Book der Anne Frank Bildungsstätte „Safer TikTok. Strategien im Umgang mit Antisemitismus und Hassrede auf TikTok“.
Tagesabschluss: Lesung
Den Abschluss des Tages bildete eine Lesung der Schriftstellerin und Journalistin Lea Streisand. In ihren Kolumnen und Büchern, aus denen sie Auszüge las, setzt sie sich auf humorvolle Art und Weise mit aktuellen gesellschaftlichen Themen auseinander, wie beispielsweise in ihrem Essay „Im Westen nichts Neues“. Dadurch lockerte sie einerseits die Stimmung im Publikum nach einem langen Tag auf, konnte aber andererseits auch Denkanstöße für den Heimweg geben.
Tag zwei des Vernetzungstreffens
Am zweiten Tag hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, eigene Ideen einzubringen und über aktuell im Kopf präsente Themen zu diskutieren. Anlass dafür waren zwei Barcamps, die hintereinander stattfanden und jeweils 45 Minuten dauerten. Davor nannten die Teilnehmenden im Plenum Themen, die sie beschäftigten oder über die sie sich austauschen wollten. So wurden zu folgenden Themen Erfahrungen geteilt, Ansätze erarbeitet und Impulse gesetzt:
• Kontinuitäten und Strukturen von Rechtsextremismus/Umgang mit der AfD
• Perspektivwechsel
• Projekte im ländlichen Raum – Wege der Umsetzung
• nachhaltiges Lernen/sichtbar machen
• aktuelle Bildsprache/Codewörter rechtsextremer Kräfte
• internationale Kontakte
• neue Konzepte der Demokratiegestaltung
• digitale Kompetenzen
Dabei konzipierten die Teilnehmenden viele Ideen, die sicherlich auch über das Vernetzungstreffen hinaus die eine oder andere Person zum Nachdenken sowie zum weiteren Austausch anregen konnten:
NIE WIEDER – ABER WIE? Überforderungen benennen und individuelle Strategien erarbeiten
Wie kann man nun aber dieses „Nie Wieder“ trotz Überforderung gestalten? Eine einheitliche, definite Lösung konnten die Teilnehmenden natürlich nicht finden. Denn es gibt nicht die eine Methode zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Sonst müsste aktuellen Anforderungen in der historisch-politischen Bildung kein Vernetzungstreffen gewidmet werden. Dennoch konnte das Vernetzungstreffen Impulse setzen und grundlegende Strategien an die Teilnehmenden herantragen. Denn die aktuellen Herausforderungen und auch Überforderungen mit ihren Hintergründen erst einmal konkret zu benennen, ist der wichtigste Schritt, um diesen überhaupt erst entgegentreten zu können. Erst dann können Konzepte entwickelt werden, die individuell und an die Spezifik jeder Institution vor Ort angepasst sind. Aber auch dafür konnten die Teilnehmenden Impulse sowie Inspiration auf dem Vernetzungstreffen sammeln, ob im Austausch mit anderen Teilnehmenden in ähnlichen oder sogar gänzlich verschiedenen Situationen oder in den Workshops.
Wer Lust hat, mehr über die Vernetzungstreffen der letzten Jahre zu erfahren, kann hier weiterlesen:
UNBEWUSSTE GESCHICHTEN. Vernetzungstreffen 2023
Rechtspopulistischen Vereinnahmungen vorbeugen und begegnen. Vernetzungstreffen 2022
ERINNERN IN DER MIGRATIONSGESELLSCHADT. Vernetzungstreffen 2021 (1)
ERINNERN IN DER MIGRATIONSGESELLSCHADT. Vernetzungstreffen 2021 (2)